Zieht der Bürger die Uniform aus?

Von Herfried Münkler · 25.06.2010
Die Wehrpflicht ist in Europa im Gefolge der Französischen Revolution eingeführt worden: Im Abwehrkampf gegen die Interventionsmächte hatte die französische Revolutionsregierung alle männlichen Bürger im wehrfähigen Alter zu den Fahnen gerufen. Als nicht alle diesem Ruf folgten, musste die levée en masse auch mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden.
Die Revolutionsarmeen, die aus Bürgern und nicht länger aus Söldnern gebildet waren, gewannen auf den Schlachtfeldern Europas eine solche Überlegenheit, dass die Nachbarn Frankreichs schon bald dessen Vorbild folgten: Um die Wehrpflicht zu begründen, musste man den Männern freilich gewisse politische Partizipationsrechte gewähren – auch in Preußen. So hat sich die Vorstellung entwickelt, die Einführung der Wehrpflicht und die Entwicklung zur Demokratie seien Hand in Hand gegangen.

Diese Vorstellung ist freilich sehr verkürzt. Die Briten nämlich, von denen gelegentlich gesagt wird, sie besäßen die älteste Demokratie der Welt, haben die Wehrpflicht immer als Ausnahme angesehen, die nur im Falle einer existenziellen Bedrohung eingeführt werden dürfe. Das war für sie im Ersten und im Zweiten Weltkrieg der Fall. Aber nach deren Ende kehrte man zur Berufsarmee zurück. Das ist in der amerikanischen Geschichte im Übrigen ganz ähnlich gewesen.

Die genauere Betrachtung zeigt, dass die Wehrpflicht nicht an die Demokratie, sondern an große Bedrohungslagen gebunden ist. Ansonsten kann sie auch sehr gut mit autoritären und totalitären Regimen zusammen bestehen. Bekanntlich wurde in Deutschland 1936 die Wehrpflicht wieder eingeführt, nachdem sie von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs aufgehoben worden war. Und nicht die Reichswehr hat Hitler an die Macht gebracht, sondern das waren Hindenburg und die deutschen Wähler.

Was im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit der Wehrpflicht tatsächlich Hand in Hand ging, war eine schleichende Heroisierung der Gesellschaft: Der heldenhafte Kämpfer wurde zum Männlichkeitsideal. Gedient und womöglich auch gekämpft zu haben, machte einen Mann erst zum "richtigen Mann".

Als Mitte der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik die Wehrpflicht wieder eingeführt wurde, wurde dieses heroische Männlichkeitsideal durch das Konzept des Bürgers in Uniform ersetzt. Das heroische Männlichkeitsideal wäre in einer gründlich desillusionierten, postheroischen Gesellschaft nicht mehr durchzusetzen gewesen. Aber das Bedrohtheitsgefühl des Kalten Krieges war doch so stark, dass eine Wehrpflichtarmee erneut akzeptiert wurde.

Doch die Bedrohungslagen, die damals zur Wiederaufstellung von Wehrpflichtarmeen in beiden deutschen Staaten geführt haben, existieren schon lange nicht mehr. Sie sind Anfang der 1990er-Jahre verschwunden, und vermutlich wäre es sinnvoll gewesen, danach auch die Wehrpflicht aufzuheben – wie es die europäischen Nachbarn in ihrer überwiegenden Mehrheit getan haben, auch Frankreich, wo diese Institution erfunden worden ist.

In Deutschland wurde zwar die Personalstärke der Bundeswehr verringert, aber es wurden weiterhin Wehrpflichtige eingezogen. Die Folge war, dass von Wehrgerechtigkeit kaum noch die Rede sein konnte. Frühere Anläufe zur Aufhebung der Wehrpflicht wurden mit Hilfsargumenten zurückgewiesen, unter anderen dem, dass die Bundeswehr dann keinen Querschnitt der Bevölkerung mehr repräsentiere. Inzwischen ist der Hinweis auf den Zivildienst, der dann auch wegfallen würde, die letzte Stütze des Wehrdienstes. Aber dann müsste man auch sagen, dass die eigentliche Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr von äußeren Feinden ausgehe, sondern von der wachsenden Überalterung im Innern. Das würde freilich ein soziales Jahr, aber keine Wehrpflicht rechtfertigen.

Die Bundeswehr wird sich in Zukunft, wie jedes andere Unternehmen auch, ihre Angehörigen auf dem freien Markt suchen müssen. Der Eingriff in die freie Selbstbestimmung, den die Wehrpflicht darstellt, wird wegfallen – früher oder später, hoffentlich nach einer sorgfältig geplanten Umstellungsphase und nicht, weil gar kein Geld mehr da ist.

Herfried Münkler, Politikprofessor, Buchautor, geboren 1951 in Friedberg, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Er ist mit zahlreichen Studien zur politischen Ideengeschichte und zur Theorie des Krieges hervorgetreten. Nicht wenige davon sind mittlerweile Standardwerke, so etwa "Machiavelli" (1982) und "Gewalt und Ordnung" (1992). Herfried Münklers jüngste Bücher: "Der Wandel des Krieges" und "Die Deutschen und ihre Mythen".
Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der HU Berlin
Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der HU Berlin© HU Berlin