Zertrümmern und Rekonstruktion

Von Stefan Keim · 17.08.2012
Zum hundertsten Geburtstag von John Cage gab es eine Menge an Konzerten. Doch an sein größtes Werk, die fünf Teile der "Europeras", traute sich kaum jemand heran. In Köln gab es vor einigen Wochen die "Europeras" zu sehen und nun wagte die Ruhrtriennale Cage für das große Publikum.
Zwei Arien, gleichzeitig gesungen. Das Orchester spielt Musik, die zu keiner der beiden Melodien passt. Bis zu zehn Arien erklingen parallel in den "Europeras" von John Cage. Der Kompositionsauftrag der Oper Frankfurt Mitte der 80er-Jahre lautete: Cage solle eine "unumkehrbare Negation der Oper als solche" schreiben.

"Europeras" nannte der Amerikaner die fünf Stücke, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1992 verfasste. Der Titel ist zweideutig. Einmal ist er eine Verdichtung von "European operas" - europäische Opern -, man kann ihn aber auch als "your operas" - "eure Opern" - verstehen.

Cage sammelte alle Partituren, für die er keine Aufführungsrechte mehr erwerben musste, vom Barock bis zu Alban Bergs "Wozzeck". Dann zerlegte er die Opern in ihre Bestandteile - Arien und Orchestermusik, aber auch Lichtstimmungen, Bühnenbilder, Gesten der Sänger. Selbst komponiert hat John Cage keinen einzigen Ton.

Die Auswahl und Zusammensetzung der Opernbruchstücke hat Cage dem Zufall überlassen. Genauer: dem chinesischen Orakel I-Ging. Wie diese Schrift, die zu den ältesten der chinesischen Kultur zählt, bestehen auch die "Europeras" aus 64 Figuren, also hier Arien.

Sie werden nun ohne Rücksicht auf Sinnzusammenhänge miteinander kombiniert, ebenso mit Kostümen, Bildern, Lichtstimmungen. Organisiert wird das alles durch einen für alle sichtbar ablaufenden Timecode, eine Uhr, die den Dirigenten ersetzt. Exakt 90 Minuten dauert "Europeras 1", der zweite Teil ist halb so lang.

Schon John Cage fiel bei der Uraufführung auf, dass die willkürlich zusammengesetzte Musik oft gar nicht schräg klingt, sondern fast wie in einer Tonart. Ob die "Europeras" wirklich eine Negation der Oper darstellen oder doch eine Hommage an diese Kunstform, hängt von der jeweiligen Aufführung ab.
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