Zerrissene Gesellschaft

Von Marc Thörner · 05.03.2012
Ein Jahr nach Beginn des Aufstandes in Libyen ist das Land weit entfernt von den Hoffnungen, die mit dem Sturz Gaddafis verbunden waren. Vor allem Milizen, die aus ehemaligen Widerstandsgruppen hervorgegangen sind, sorgen für Probleme. Bisweilen kontrollieren sie nach Art von gesetzlosen Warlords ihren Einflussbereich.
Zu den Klängen der Nationalhymne laufen in den neuen libyschen Fernsehsendern tagein tagaus Videos, die den Kampf gegen Gaddafi idealisieren - auch jetzt noch, Monate nach dem Tod des Diktators und dem Sieg über das alte System.

Viele der Kämpfer, die in den ersten Tagen des Aufstands mehr oder weniger spontan zu den Waffen griffen, haben sie bis heute nicht aus der Hand gelegt. So wie die Angehörigen einer Miliz am Stadtrand von Bengasi, die dort eine ehemalige Armeekaserne besetzt halten. Mauern, ein Tor, ein Hof und darin: ein Dutzend Toyota-Pickups mit dem Logo der Miliz.

Ihr Kommandeur, Adel Elhass, ist im Zivilberuf Mechaniker. In den ersten Tagen des Aufstands wagte er es, vor der Kamera des arabischen Nachrichtensenders Al Dschasira Staatschef Gaddafi zu kritisieren. Der graubärtige kleine Mittvierziger wurde über Nacht zu einer prominenten Figur des Kampfes gegen das alte Regime. Widerständler scharten sich um ihn und baten ihn, sie anzuführen.

"Seitdem kommandiere ich diese Gruppe. Wir nennen uns Ahrar Libya, libysche Freiheit. Unsere Aufgabe besteht darin, für unser Land zu kämpfen.
Als wir anfingen, da hatten wir nur Messer und Steine. Erst später haben wir unsere Feuerwaffen bekommen."
Davon haben sie jetzt mehr als genug: Kommandant Elhass umschwirren diverse Unterführer, manche mit Kalaschnikows, manche mit NATO-Gewehren. Sie tragen die unterschiedlichsten Tarnfleckuniformen und Kopfbedeckungen. Es ist nur eine von vielen hundert Milizen, die es zur Zeit in Libyen noch gibt.

Als wäre der Krieg noch immer nicht vorbei, errichten auch die Männer von Ahrar Libya Checkpoints, suchen nach Anhängern Gaddafis, verhaften vermeintliche Spione und Aktivisten des alten Regimes, halten sie fest oder schicken sie in ihre Gefängnisse.

Amnesty International wirft vielen dieser Gruppen vor, zu foltern und Menschen ohne Anklage nach Belieben festzuhalten. Ihr Geld erhalten die Milizionäre durch einen monatlichen Ehrensold von umgerechnet 180 Euro, den die Interimsregierung jedem Kriegsteilnehmer zahlt. Doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Milizenchefs dieses Gehalt aufbessern: Durch Beschlagnahme von Gütern angeblicher Gaddafi-Anhänger, durch Freilassung von Gefangenen gegen Bezahlung.

In Sirte und anderen Gaddafi-Hochburgen ließe sich da viel verdienen. Weniger in der alten Rebellenstadt Bengasi. Adel Elhass und seine Unterführer geben sich bescheiden. Als Wächter der Errungenschaften, die sie im Spätsommer 2011 blutig erkämpften.

In dem kahlen, heruntergekommenen Büro, in dem einst ein Regimentschef residierte, trinken sie Tee, rauchen und lassen Erinnerungen an das schwere Gefecht aufleben, an dem sie damals teilgenommen haben: Es ging um die Kontrolle der Ölstadt Brega. Elhass nimmt einen Filzstift und skizziert die Lage auf ein Blatt Papier:

Der Kreis dort Brega, dort fange das Meer an, feindliche Einheiten hätten rund um die Stadt Minen vergraben. Revolutionäre hätten die Stadt belagert und hier, an dieser Stelle hätten die Leute von Ahrar Libya gestanden - und hier die Truppen von Gaddafi. Ihnen gegenüber standen, so sagen sie, Tausende von Afrikanern, ebenfalls Irreguläre wie sie selbst. Söldner, von Gaddafi im Tschad oder in Mali angeworben und großzügig bezahlt. Damit war es letztlich kein Kampf Aufständische gegen den Staat - sondern Aufständische gegen angeheuerte Milizen. Das ist das Novum im libyschen Bürgerkrieg.

General Ahmed Farag gehörte bis zum Aufstand zu den Befehlshabern der regulären Armeegarnison von Bengasi. Gaddafi, sagt er, habe immer eine Stammespolitik betrieben. Da er den Offizieren in vielen Regionen, insbesondere in Ostlibyen nicht traute, habe er eine Parallelstruktur aufgebaut und so die regulären Sicherheitskräfte neutralisiert. Insbesondere die Armee fühlte sich dadurch missachtet.

"In Ostlibyen wurde die Armee immer schwach gehalten. Die besten Waffen waren nie in unseren Händen, sondern bei den irregulären Verbänden, die unter dem Kommando von Gaddafis Söhnen standen. Das Gehalt bei den regulären Truppen war gering. Es lag bei etwa 300 Dinar. Bei den Milizen der Gaddafi-Söhne verdiente man dagegen mindestens 700 Dinar."

Dass der Staatslenker die eigenen Soldaten verprellte, rächte sich schon zu Beginn des Aufstandes. Denn es passierte genau das, was er offenbar befürchtet, gleichzeitig aber durch seine Politik geradezu angebahnt hatte: Statt für das System zu kämpfen, liefen General Farag und seine Truppen zu den Revolutionären über.

"General Abdelfatah Younis war der Erste. Dann folgten wir in Bengasi als erstes Armeelager seinem Beispiel. Dazu entschlossen wir uns bereits am ersten Tag der Rebellion, am 17. Februar. Einen Tag später verkündete Gaddafi: Jeder Soldat, der zu den Revolutionären übergeht, wird hängen. Daraufhin setzten wir Offiziere uns zusammen. Kapitän Said von der Marine, Armeeinspektor General Gitrani und ich als Brigadegeneral. Insgesamt sind wir sieben, die anderen sind gerade an der Front. Gegen jeden von uns wurde ein Todesurteil verhängt."

General Farag und seine Mitkämpfer öffneten ihre Arsenale für die Kämpfer. Handfeuerwaffen, Flakartillerie oder veraltete schwere Maschinengewehre. Die Verbrechen, die Gaddafis Truppen an der Zivilbevölkerung verübten, taten ein Übriges, auch Nichtmilitärs zum Kämpfen zu motivieren, Menschen, die vorher niemals daran gedacht hätten. Etwa in Aschdabiya, einer schwer zerstörten Stadt an der Straße zwischen Tripolis und Bengasi, die mehrfach den Besitzer wechselte.

Hier wohnt Abdelkrim Senussi, einer der Honoratioren der Stadt. Der 70-jährige pensionierte Polizeioffizier gehört zu dem Stamm, der sich am engsten mit der Gaddafi-Herrschaft verbunden hatte. Als langjähriger Parteigänger des Regimes war er davon ausgegangen, dass seine Familie von den Gaddafi-Milizionären verschont wird.

"Als ich nach Hause kam, habe ich meine Familie nicht mehr gefunden. Im Inneren war alles zerstört, Schränke und Truhen waren aufgebrochen. Eine meiner beiden Töchter ist bis heute nicht wieder aufgetaucht, sie ist verschwunden samt ihren zwei Kindern."

Was mit Hannan, seiner anderen Tochter geschah, darüber schweigt der pensionierte Polizist zunächst. Schließlich entscheidet er sich doch zu sprechen. Sie sei vergewaltigt worden und befinde sich bis jetzt in einem Krankenhaus in Bengasi.

"Das hier war das Zimmer meiner Tochter. Warum sind sie in mein Haus gekommen, warum haben sie meine Tochter mitgenommen?"

Senussi führt uns vor sein Haus. Dort hat seine eigene Miliz Aufstellung genommen: Ein Dutzend seiner Söhne präsentiert sich dort mit Gewehren in der Hand. Damals sagte einer von ihnen:

"25 Jahre lang hat mein Vater gegen die italienischen Kolonialisten gekämpft. Genauso werden wir jetzt gegen Gaddafi kämpfen, selbst wenn wir keine guten Waffen haben. Ich habe 30 Söhne. Ich werde mit ihnen gegen Gaddafi vorrücken, bis ich es vor seine eigene Haustür geschafft habe."

Wie Abdelkrim al Senussi und seine Söhne, eilen Tausende unausgebildeter Regimegegner an die Front. Kampfjets der Nato schießen ihnen den Weg frei und schalteten, wo es möglich war, die schweren Waffen des Gegners aus.

In einem ehemaligen Armeelager am Stadtrand von Bengasi im vergangenen Sommer: Ein junger Europäer namens Marek trainiert dort eine Kampfgruppe. Marek ist Anfang 20. Ins Mikrophon will er nichts sagen, erzählt aber eine ungewöhnliche Geschichte: Er sei slowakischer Student und sympathisiere mit der Sache der Freiheitskämpfer. Deshalb sei er in seinen Semesterferien hier hergekommen. Woher er selber seine militärischen Kenntnisse hat? Von einer privaten Sicherheitsfirma, sagt er. Da habe er mal gejobbt.

Marek, in T-Shirt und olivfarbener Hose, zeigt einer Gruppe von 15 Kämpfern, wie sie am besten ein Haus angreifen können.

Dank Ausbildern und Beratern wie Marek entstehen nun auch auf Seiten der Rebellen klassische Milizenstrukturen: Eine feste Gruppe schart sich um einen Führer, der für ihre Bezahlung und Ausrüstung verantwortlich ist und höheren Instanzen als Ansprechpartner dient. Ausländische Berater leiten die Milizionäre an und halten die Verbindung zur NATO-Luftwaffe. Auf diese Weise gelingt den Rebellen schließlich auch der Vormarsch nach Tripolis.

Einig sind sich die Kämpfer in den unterschiedlichen Gruppierungen nur über das, was sie nicht wollen: Gaddafi, seine Familie, sein System. Über klare politische Vorstellungen, konkrete Ziele, eine gemeinsame Vision für die Zukunft verfügen sie nicht. Es ist auch die Stunde religiöser Führer, die versuchen die Macht der Milizen auf sich zu übertragen, Männern wie Scheich Nabil Sadi.

Der junge langbärtige Mann ist erst Ende 20, aber in der Rebellenhochburg Bengasi der bekannteste Freitagsprediger. Scheich Nabil Sadi lässt keinen Zweifel: Dieser Krieg war ein Dschihad, ein heiliger Krieg. Nach der Predigt lässt Scheich Nabil keinen Zweifel daran, welch ein System er sich für das neue Libyen wünscht:

"Wir sind Muslime, das Scharia-Recht ist deshalb für uns angemessen. Auch das Zivilrecht ist ein Teil der Scharia."'"

Unterstützt werden diese Tendenzen von Saudi Arabien, den Ländern des Golfkooperationsrates. Während die Golfherrscher Aufstände in den eigenen Ländern ersticken, sehen sie die Arabellion bei anderen als eine willkommene Chance, dort gemäßigt islamistische Regime an die Macht zu bringen. In ihrem Kalkül wäre ein konservativ-sunnitischer Block ein ideales Gegenmittel, um die Macht einzudämmen, die vom schiitischen Iran ausgeht.

Den Parteigängern der Golfherrscher gegenüber stehen die säkular orientierten langjährigen Mitglieder des libyschen Übergangsrates, die sich auch in der neuen Regierung wiederfinden. Männer wie der Jurist und Verfassungsrechtler Abdallah Musa el Mahboub.

""Mirabeau, Voltaire, Montesquieu, die französische Philosophie, das ist meine Welt. Daran sollten wir uns orientieren, an der italienischem, an der US-amerikanischen Verfassung. Der Islam, die Scharia, haben mit dem Staat nichts zu tun. Das ist eine persönliche Angelegenheit zwischen dem Menschen und Gott. Der Islam wird nicht mit unseren neuen Gesetzen vermischt!"

Auch der Anwalt Abdelhafid Roga, Revolutionär der ersten Stunde, spricht sich klar für ein säkulares System aus:

"Unter Gaddafi war alles auf die Macht der Gewehre aufgebaut. In Zukunft werden wir den Staat entmilitarisieren. Es wird eine Zivilgesellschaft geben, eine Verfassung, Wahlen. Alle Repräsentanten des Staates sollen gewählt werden."

Welche Argumentation verfängt am Ende besser bei den Milizenführern und den Tausenden Milizionären? Vor allem das ist für die Zukunft Libyens entscheidend. Denn bis heute liegt die Macht in Libyen bei den Milizen - unter denen es eine Art Hierarchie gibt. Zu den wichtigsten gehören die etwa 200 einzelnen Gruppierungen in und um die Stadt Misrata. Sie folgen im Großen und Ganzen den Anweisungen des Abgeordneten der Stadt, Suleiman Fortea, der als säkular orientiert gilt. Andere Verbände, etwa aus der Stadt Darna gelten als salafistisch-fundamentalistisch orientiert. Sie verhaften nach eigenem Gusto Leute, die aus ihrer Sicht gegen die Moral verstoßen.

Milizenkommandant Elhass wischt allerdings die Frage nach unterschiedlichen Kräften oder Zukunftsvisionen vom Tisch.

"Wir sind alle Muslime. Wir lieben den Frieden, wir engagieren wir uns für Demokratie und Freiheit. Vielleicht meinen die Europäer, dass alle Muslime es lieben, zu töten. Aber das stimmt nicht, wir wollen bloß unsere Freiheit, weiter nichts."

Eines jedenfalls macht der ehemalige Mechaniker aber gleichzeitig klar. Von der Forderung Milizen aufzulösen, fühlt er sich nicht angesprochen.

"Wir haben uns doch dem Militärkomitee der Regierung unterstellt. Wir gehorchen dem Verteidigungsministerium. Wir sind überhaupt keine Miliz."