Zeit und Pünktlichkeit

In Indien ticken die Uhren anders

Eine Kuh liegt in einer Gasse in Old Delhi
Ganz entspannt: Eine Kuh liegt in einer Gasse in Old Delhi. © Sandra Petersmann / ARD
Von Sandra Petersmann · 26.04.2016
In Indien geht es nicht um Sekunden, nicht um Minuten, nicht um Stunden. Es geht um den Fluss des Lebens. Auf der Suche nach der Zeit in Indien erhält ARD-Korrespondentin Sandra Petersmann einen Ratschlag für alle hektischen Deutschen.
Zwei Kühe schieben sich gemächlich widerkäuend durch die engen Gassen. Alle anderen machen Platz. Selbst die Rikscha-Fahrer, die sonst für ihre scharfen Pedale bekannt sind. Die Zeit verstreicht. Es ist halb zwölf an einem ganz normalen Vormittag.
Eigentlich sollten die Geschäfte auf dem Uhren-Basar in Old Delhi, dem alten Kern der indischen Hauptstadt, schon längst geöffnet sein. Uhrenmacher Rajinder Kumar hat gerade erst das Rollgitter zu seinem kleinen Laden hochgeschoben. Sein Geschäft heißt "Rajinder Times", Rajinders Zeiten.
Uhrenmacher Rajinder Kumar
Uhrenmacher Rajinder Kumar© Sandra Petersmann / ARD
"Inder glauben nicht an das Konzept der Pünktlichkeit, also sind wir auch nicht pünktlich",
erklärt Rajinder. Und je länger er spricht, desto philosophischer wird er:
"Zeit ist Wandel. Die Zeit ändert sich für jeden Menschen, etwa alle vier bis fünf Jahre gibt es einen großen Einschnitt. Es heiratet jemand in der Familie, ein Kind wird geboren, es stirbt jemand",
sagt der grauhaarige Uhrenverkäufer mit Halbglatze, der längst auch chinesische Massenware im Angebot hat.

"Aufgaben erledigen, wenn die Zeit reif dafür ist"

Und dann dieser Satz:
"Die Zeit ist auch in Indien wichtig, aber die Menschen hier sagen sich eben, dass sie ihre Aufgaben erledigen, wenn die Zeit reif dafür ist."
Rajinder Kumar scheint die Zeit wie viele Inder in einem größeren Rahmen zu begreifen. Es geht nicht um Sekunden, Minuten oder Stunden wie in Deutschland. Es geht eher um den Fluss des Lebens. Die meisten Inder sind Hindus. Und Hindus glauben an die Wiedergeburt. Das Leben ist also nicht endlich, sondern ein Kreislauf.
Relativiert das den Zeitbegriff? "Vielleicht", sagt Niranjan Shah und wackelt mit dem Kopf, wie es viele Inder tun, wenn sie diskutieren. Der große, schlanke Niranjan hat sich darauf spezialisiert, die Zeiger und Zifferblätter alter Uhren auszuwechseln.
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Old Delhi ist der alte Kern der indischen Hauptstadt© Sandra Petersmann / ARD
"Warum das mit der Zeit bei uns so ist, kann ich Ihnen auch nicht abschließend erklären. Aber wir Inder denken eben, dass alles zu seiner eigenen Zeit passiert. Das ist tief ins uns verankert. So denken wir von Kindheit an. Unsere Eltern erziehen uns nicht zur Pünktlichkeit. Schon die Erziehung spiegelt unser Zeitgefühl wider. Die Zeit ist nicht wichtiger als das Leben selber."
Niranjan hat gehört, dass gerade die Deutschen durchs Leben rennen und besessen sind von Zeit und Pünktlichkeit.
"Hier in Indien gehen die Menschen so mit der Zeit um, dass das Leben nicht in Stress ausartet. Stress macht dich krank. Ihr Deutschen müsst lernen loszulassen. Vielleicht nicht ganz, aber wenigstens ein bisschen loslassen."
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