Zeit nehmen für die Zeitsuche

03.01.2012
Der technische Fortschritt dient fast nur dazu Zeit einzusparen. Trotzdem wird unser Leben immer schneller, immer gehetzter, immer hastiger. Wo bleibt sie eigentlich, die Zeit? Danach fragt der Dokumentarfilmer Florian Opitz, in seinem Buch "Speed".
Es ist ein Paradox: Der technische Fortschritt dient dazu, immer mehr Zeit einzusparen. Und doch wird die Zeit immer knapper, das Leben gehetzter. Der Dokumentarfilmer Florian Opitz, Jahrgang 1973, geht in seinem Buch "Speed" der Frage nach, wo die Zeit eigentlich bleibt, ein Film zum Thema wird folgen. In seinem persönlichen Fall wäre das leicht zu beantworten, schildert er doch zunächst sein eigenes Suchtverhalten am Computer, den Zwang alle paar Minuten die Mails zu checken und im Netz abzuschweifen.

Den Computer einfach mal auszuschalten könnte angesichts dieser Diagnose viel freie Zeit generieren. Stattdessen stürzt Opitz sich in eine etwas ziellose Recherche, die ihn zunächst in ein Zeit-Management-Seminar führt, wo er Worte wie "Prioritätenmatrix" und "Champagneraufgaben" lernt, vor allem aber viel Geld bezahlt.

Er besucht einen Psychiater, um seinem Burn-Out-Verdacht nachzugehen, Alex Rühle von der "Süddeutschen Zeitung", der ein halbes Jahr ohne Netz und Handy gelebt und darüber ein Buch geschrieben hat, und schließlich den Zeitforscher Karlheinz Geißler, der ihm klar macht, dass sich Zeit nicht sparen lässt und Zeitnot kein individuell lösbares Ordnungsdefizit ist, sondern auf das gesellschaftliche Problem der Beschleunigung verweist.

Wer genug Zeit hatte, um bis hierher zu lesen, für den wird es nun interessant. Nach einer Annäherung an die Welt der Hochbeschleunigten - einem Gespräch mit einer gespenstische Unternehmensberaterin und einem Besuch bei "Reuters" im Londoner Finanzzentrum, wo gigantische Großcomputer Nachrichten in einem Tempo generieren, das den in Tausendstelsekunden vollzogenen Finanztransaktionen entspricht, sucht Opitz nach "Alternativen zum Hamsterrad".

Dafür reist er fast um die ganze Welt. Er trifft einen ehemaligen Investmentbanker und eine Bergbauernfamilie in den Alpen, bei der er lernt, dass Zufriedenheit auch trotz sehr viel Arbeit und Zeitmangels möglich ist. In Patagonien macht er den Gründer von "The North Face" und "Esprit" ausfindig, der seinen einst erworbenen Reichtum nutzt, um Land in großem Stil zu kaufen und in Naturschutzparks zu verwandeln. Schließlich reist er nach Bhutan im Himalaya, wo es ein amtlich garantiertes "Bruttonationalglück" und einen dafür zuständigen Minister gibt.

Als Einzelporträts, die sich wie Reisereportagen lesen, sind diese Kapitel erhellend. Das Thema hat sich dabei vom Zeitmangel zur Suche nach erfülltem Leben verschoben. Der "Suche nach der verlorenen Zeit", wie das Buch im Untertitel etwas großspurig und mit völlig abwegigem Proust-Bezug heißt - fehlt dagegen die theoretische Grundierung.

Norbert Elias' Untersuchung über das Wesen der Zeit als einer sozialen Konvention oder Karl Marx' Warentheorie, die den Wert einer Ware als geronnene Arbeitszeit bestimmt, hätten Opitz viele mühsame, kleine Überlegungen ersparen können. So verliert man als Leser irgendwann die Geduld und hat nicht genug Zeit, um mit dem Autor irgendwo zwischen Online-Neurose, Glückssuche und Weltrettungssehnsucht verloren zu gehen. Schade, denn ein schönes, gut lesbares Buch ist "Speed" trotzdem.

Besprochen von Jörg Magenau

Florian Opitz: Speed. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Riemann Verlag, München 2011
286 Seiten, 17,95 Euro
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