Zeichen des heraufziehenden Aufstands

Von Vanja Budde · 17.06.2011
"Vor dem Sturm" hat das Goethe-Institut seine Reihe unabhängiger arabischer Filme genannt, die bis zum 22. Juni in Berliner Kino Arsenal zu sehen sind. Vier abendfüllende Spielfilme und ein halbes Dutzend Kurzfilme sollen zeigen, wie die Revolutionen in den arabischen Ländern sich zuvor im Kino angekündigt haben. Die Filme entstanden alle vor diesen historischen Ereignissen in Tunesien, Ägypten, im Jemen oder im Oman.
Hätten Sie gewusst, dass es in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria 30 Rock- und Metalbands gibt und eine bunte Skater- und Hiphop-Szene?

Allzu fest hatte der Westen seinen Blick auf unterdrückte Frauen unter dem Schleier und auf islamistische Hassprediger in den Moscheen gerichtet, darum waren wir alle von den arabischen Revolutionen Anfang dieses Jahres so überrascht. Im Nachhinein sieht man die Zeichen des heraufziehenden Aufstands der arabischen Jugend überall in den knapp 20 Filmen, die das Goethe-Institut von heute an in Berlin zeigt. Sie spiegeln als gesellschaftliche Seismographen die Stimmung, die vor dem großen Wandel herrschte, bestätigt Nadine Khan. Die ägyptische Filmemacherin gehört mit ihren 32 Jahren zur Facebook-Generation, die den Sturm losgetreten hat:

Nadine Kahn: "Unmittelbar vor der Revolution hatte ich einen Punkt erreicht, als Regisseurin, als Frau und als ägyptische Staatsbürgerin, an dem ich das Gefühl hatte, dass das Land einen Abgrund erreicht hat, in dem nichts passiert, in dem niemand irgend etwas erreicht. Es war wirklich hart und jeder hat das gefühlt. Die Zeichen waren da: Dass sich die Menschen wie erstickt fühlten, das war sehr klar und offensichtlich."

Nadine Khan ist in der Filmreihe mit dem Kurzfilm "One in a Million" vertreten, ein Porträt des nächtlichen Kairo von 2006. Der Umsturz in Ägypten kam für sie genau im richtigen Augenblick, erzählt die zierliche Filmemacherin mit dem herzförmigen Gesicht und sanften Händedruck.

Nadine Kahn: "Ich hatte letztes Jahr ein Problem: Ich arbeite gerade an meinem ersten langen Spielfilm und die Zensur hat das Projekt gestoppt. Vor der Präsidentschaftswahl wollten sie nur Komödien zulassen oder Filme, die nichts Wichtiges thematisieren. Doch nach der Revolution bekam ich die Erlaubnis, das ist super!"

Nadine Khan will in ihrem Film von sozialen Missständen berichten und sie hofft, dass die bislang auf Unterhaltungskino abbonierte mächtige ägyptische Filmindustrie sich in Zukunft mehr für das Autorenkino öffnet.

Für Filme wie "Microphone" von Ahmad Abdalla, der im musikalischen Underground von Alexandria spielt: Der staatliche Kulturzensor verhindert jeden Bühnen-Auftritt der Hiphop- und Rockbands der Stadt. So ziehen sie mit ihren Verstärkern auf die Plätze und Straßen, doch die Polizei löst auch jedes improvisierte Konzert nach kurzer Zeit auf.

Starke Bilder, flott geschnitten, sympathische Figuren und viel Musik: "Microphone" wurde beim Cairo International Film Festival im vergangenen Dezember als "bester arabischer Film" ausgezeichnet. In Europa ist er nahezu unbekannt, ein Schicksal, das er teilt mit Filmen aus allen anderen arabischen Ländern, sagt Kurator Marcel Schwierin.

Kurator Marcel Schwierin: "Die arabische Gesellschaft hat eine andere Erzähltradition und da glaub ich fehlt manchmal die Bereitschaft, sich zu öffnen und sich Filme anzuschauen, die wirklich anders sind. Ich glaube aber, dass jetzt natürlich die Bereitschaft da ist und ich nehme an, dass es jetzt Filme aus der arabischen Welt sehr viel einfacher haben werden."

Denn der "Arabische Frühling" habe das Interesse für diese Gesellschaften endlich geweckt, sagt Schwierin, der für die Kurzfilmreihe "Arab Shorts" verantwortlich ist. Schwierin beobachtet seit einigen Jahren, wie das Medium Film zum Sprachrohr der jungen Generation zum Beispiel in Ägypten wurde, erst ermöglicht von der Digitalisierung, die staatliche Kontrolle erschwert, weil die Regisseure ohne große Budgets und Teams auskommen:

Kurator Marcel Schwierin: "Seit es aber diese kleinen Digitalkameras gibt, können Filmemacher völlig unabhängig arbeiten. Die gehen dann gar nicht mehr zur Zensur, die filmen einfach. Manche Filmemacher machen das auch nach so einem Prinzip, das nennen sie 'shoot and run': Die gehen auf die Straße, drehen bis die Polizei kommt, dann pfeift einer und dann hauen sie alle ab, die packen diese kleine Kamera ein und drehen an der nächsten Straßenecke weiter. Und dadurch ist eine neue, völlig unabhängige Filmkultur entstanden."

Ein Beispiel dafür läuft am kommenden Sonntag: "Ain Shams" gilt als Wegbereiter des unabhängigen Autorenfilms in Ägypten, weil Regisseur Ibrahim El Batout ihn ohne Genehmigung gedreht und es dennoch geschafft hat, den Film in ägyptischen Kinos zu zeigen. "Ain Shams" erzählt vom Kampf eines Taxifahrers um seine läukemiekranke Tochter. Ein Cousin des Mädchens wandert nach Italien aus, um dort auf Baustellen zu schuften. Ein Handlungsstrang der in nahezu allen Filmen vorkommt. Weil die Auswanderung vor den Umbrüchen in den arabischen Ländern ein großes Thema war, erklärt Kurator Schwierin.

Kurator Marcel Schwierin: "Und dieser Braindrain, dass gerade die sehr agilen Menschen, die Intellektuellen, dass die dann das Land verlassen und doch lieber in so einer multikulturellen Stadt wie London oder wie Berlin leben, das ist natürlich für die Gesellschaften ganz schlimm, weil dort verlieren sie auch ein ungeheures Potenzial. Und ich hoffe sehr, dass sich das jetzt ändert, dass viele sich entscheiden werden, sie bleiben in ihren Ländern, natürlich nicht für immer, sondern reisen viel, aber bleiben dort und versuchen dort etwas zu verändern, weil die Länder brauchen diese Köpfe."

Für Nadine Khan ist es keine Option, Ägypten zu verlassen. Nicht jetzt, nachdem endlich alles anders geworden ist:

"Es ist eine sehr schräge Atmosphäre: Es ist sehr gut, es ist unheimlich, sehr intensiv. Aber: Die Dinge sind ins Rollen gekommen. Noch weiß niemand, wie das alles enden wird, aber die Revolution hat uns wieder Hoffnung gegeben und die Energie, von vorne anzufangen."

Service:
Die Kurzfilme können sie sich auch im Internet anschauen unter www.arabshorts.net