Zehn Jahre sind genug

Von Michael Stürmer · 20.05.2007
Tony Blair verlässt 10 Downing Street, von wo er zehn Jahre lang die britischen Inseln regierte. Teflon Tony, wie man ihn nach seinem triumphalen Wahlsieg im Mai 1997 nannte, hat noch immer das Siegerlächeln auf den Lippen, und seine Abschiedsrede an die Wähler in seinem nordenglischen Wahlkreis und an den Rest der Welt machte aus einer Niederlage einen letzten Sieg.
Aber Abschied ist Abschied, und früher oder später, wenn alle Reden gehalten, alle Ehren genossen und alle Verträge über Memoiren abgearbeitet sind, kommt der Weg ins House of Lords – und serene Ruhe breitet sich aus. Winston Churchill, Englands legendärer Kriegspremier, wurde später einmal gefragt, was er am meisten vermisse. Die Antwort: "Transport, my friend, transport". Das war klassisches englisches Understatement.

In Wahrheit wusste Churchill besser als jeder andere: Die Macht ist eine Droge, und sie hat einen hohen Preis, den man den zerfurchten Gesichtern ansieht. Aber sie ist auch das mächtigste Stärkungsmittel, ein potentes Aphrodisiakum, ein Versprechen der Gottähnlichkeit. Das Grausame an der Demokratie ist, dass die Macht immer nur geborgt ist, auf Zeit, und Politik ein Geschäft ist ohne Dank. Abreiten in den Sonnenuntergang, das gibt es nur im Kino. Die Abschiede der Politik sind in der Regel unschön, erniedrigend, und bringen nicht immer die edelsten Eigenschaften von Amtsinhabern und Nachfolgern an die Oberfläche. Wer keinen Vatermord begehen will, der soll sich aus dem Spiel um die Spitze heraushalten.

Für Politiker der Luxusklasse gibt es, wohin man blickt, keine Altersgrenze. Diktatoren, von Libyen über Syrien und Ägypten bis Nordkorea, würden gerne ewig die Macht festhalten. Da das aber bisher die Medizin noch verweigert und in eingefrorenem Zustand schlecht zu regieren ist, setzen sie ihre Söhne ein und gründen Dynastien. In Demokratien ist dieses Verfahren eher die Ausnahme, nur die entmachteten Monarchien reichen den Mantel der Macht an die Erstgeborenen. Republiken können das nicht. George W. Bush, der zweite Nachfolger seines Vaters im Weißen Haus, lädt nicht zu Wiederholungen ein. Bill Clintons Frau Hillary möchte gern im nächsten Jahr die erste Präsidentin der USA werden - aber gegenwärtig sieht es eher danach aus, dass dies die Wahl ist, die sie nur verlieren kann.

Das britische Wochenmagazin "The Economist" stellte im Niedergang der "Iron Lady" Margret Thatcher kalt und taktlos fest, nach zehn Jahren habe sich auch der größte Staatsmann verbraucht – im vorliegenden Falle meinte die einflussreiche Zeitschrift natürlich die Staatsfrau in Number Ten. Offenbar haben die Briten ein ungeschriebenes Gesetz entdeckt, und es lautet in einem Satz: Zehn Jahre an der Spitze sind genug. Das gilt nicht nur für die Politik, es gilt für Wirtschaft und Wissenschaft. Danach wird der große Chef, der bisher immer Teil der Lösung war, Teil des Problems.

Beispiele? Konrad Adenauer war, als er 1949 Kanzler wurde, gut über siebzig Jahre alt, und mitunter versicherte er listig, er würde es nicht lange machen – und ließ alle, die sich für Nachfolger hielten, warten. Dann 1959, nach zehn Jahren, wollte er Bundespräsident werden, aber nur solange, bis er das Grundgesetz studierte und merkte, dass im Palais Schaumburg wenig Macht zu finden war. Danach kam ein langer, für alle Beteiligten schmerzhafter Abschied. Helmut Kohl hatte nach zehn Jahren alles erreicht, was menschenmöglich war – aber er hielt sich für unbesiegbar und unentbehrlich. Doch für diesen Cäsar gab es zu Kanzlerzeiten keinen Brutus, den gab es, in weiblicher Ausgabe, erst danach, als es weniger gefährlich war.

Die amerikanische Verfassung sieht heute maximal zwei Amtszeiten von je vier Jahren vor für den Regierungs- und Staatschef im Weißen Haus. Aber das gilt erst, seitdem Franklin D. Roosevelt, kurz nach Beginn seiner dritten Amtszeit, seinem langen Leiden erlegen war. General de Gaulle, als er sich den Mantel der Fünften Republik um die Schultern warf, setzte eine Amtszeit von sieben Jahren in die Verfassung. Nach vier Jahrzehnten wurde das geändert: Fünf Jahre, gegebenenfalls zu wiederholten Malen, sind heute genug. Wer die letzten Jahre des Jacques Chirac aus der Nähe beobachtete, begreift die Weisheit dieser Begrenzung.

Alles fließt – sagte ein griechischer Philosoph. Das gilt auch für die Macht. Alle zehn Jahre stürzt der Strom der Politik über Katarakte, deren Donnern man von weit her hört. Wer klug ist, wie Tony Blair, verlässt das Schiff und tut so, unter Tränen lächelnd, als sei der Abschied von der Macht ihr souveränster Akt.

Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der StiftungWissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt ‚Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im so genannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".
Michael Stürmer, Chefkorrespondent "Die Welt"
Michael Stürmer© Deutschlandradio / Bettina Straub