Zankapfel Holocaust

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Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán: Streit um den 70. Jahrestag der Judendeportation © dpa / picture alliance / Szilard Koszticsak
Von Keno Verseck · 12.05.2014
Holocaust-Gedenken in Ungarn: Ministerpräsident Viktor Orbán hatte ursprünglich für das Jahr 2014 ein Erinnerungs-Event der Superlative geplant. Historiker werfen ihm nun vor, er wolle Ungarn nur als Opfer darstellen – ohne eine eigene Schuld.
Budapest, Ende vergangenen Jahres vor dem Gelände des stillgelegten Josefstädter Bahnhofs: Mitglieder der neonazistischen Partei "Ungarische Morgenröte" demonstrieren gegen die so genannte "Holocaust-Industrie" und die "zionistische Lobby". Später schmieren sie Schimpfwörter auf einen Bauzaun, eines lautet: "Holo-Gaunerei".
Stein des Anstoßes für die Rechtsextremen ist das "Haus der Schicksale", ein Holocaust-Gedenkzentrum, das am Josefstädter Bahnhof entsteht. Es ist Teil des Holocaust-Gedenkjahres 2014 in Ungarn, ausgerufen von der Orbán-Regierung aus Anlass des 70. Jahrestages der Judendeportation. Allerdings lehnen nicht nur Rechtsextreme, sondern auch viele konservative Anhänger des Ministerpräsidenten Viktor Orbán das Projekt ab. Für sie ist es ein übertriebenes Großereignis. Doch die ungarische Regierung will mit dem Gedenkjahr in einem Maße für die Aufarbeitung der Vergangenheit sorgen, wie das bisher in Ungarn nicht der Fall war – so jedenfalls stellt es der Regierungssprechers Ferenc Kumin dar:
"Unser oberstes Ziel ist, dass wir uns dem schwerwiegenden historischen Erbe stellen. Wir werden niemals vergessen, was geschehen ist. Die ungarischen Behörden haben bei der Deportation der Juden geholfen. Darüber, wer welche Verantwortung trägt, gibt es viele Diskussionen. Das zu klären, dafür bietet das Gedenkjahr eine gute Gelegenheit."
István Gábor Benedek, 77 Jahre, Journalist und Schriftsteller in Budapest. Er überlebte den Holocaust als Kinder nur knapp. Seine Erlebnisse schilderte er in mehreren Büchern. Heute geht er manchmal an Schulen und berichtet dort vor Jugendlichen über sein Leben und Überleben als Kind.
"Ich bin im Ort Tótkomlós im Süden Ungarns geboren. Unsere Familie lebte in guten, soliden Verhältnissen. Vom Antisemitismus habe ich als Kind nichts gespürt. Ich wusste nicht, dass man uns Juden hasst. Als ich sieben Jahre alt war, kamen wir ins Ghetto von Tótkomlós, das war im Juni 1944. Dann wurden wir über verschiedene ungarische Sammellager nach Österreich und später nach Deutschland gebracht. Anfang Dezember 1944 kamen wir in Bergen-Belsen an."

Die Große Synagoge im byzantinisch-maurischen Stil in Budapest in der Dohany Straße
Die Große Synagoge im byzantinisch-maurischen Stil in Budapest in der Dohany Straße© picture alliance / ZB
Kontroversen um das Holocaust-Gedenkjahr 2014
Ursprünglich war das Holocaust-Gedenkjahr 2014 von der ungarischen Regierung als Erinnerungsevent der Superlative geplant – mit zahlreichen Gedenkfeiern und Bildungsveranstaltungen, unter Beteiligung jüdischer Gemeinden und Einrichtungen. Die Einweihung des "Hauses der Schicksale" am Josefstädter Bahnhof sollte zum zentralen Augenblick des Gedenkjahres werden. Doch dann kam es zu Kontroversen.
Eine betraf die umstrittene Historikerin Mária Schmidt. Sie soll die Ausstellung im "Haus der Schicksale" konzipieren. In Budapest leitet sie bereits das "Haus des Terrors", ein Museum, in dem nationalsozialistische und kommunistische Verbrechen dargestellt werden. Viele ungarische Historiker werfen Schmidt vor, sie relativiere Ungarns Anteil am Holocaust systematisch. Auch jüdische Gemeindevertreter äußerten Vorbehalte, etwa der Präsident des Gemeindeverbandes Mazsihisz, András Heisler:
"Mária Schmidt will in der Gedenkstätte am Josefstädter Bahnhof unter anderen die positiven Beispiele von Rettern der Juden zeigen. Sie argumentiert, es sei sehr wichtig, in der Darstellung solcher geschichtlichen Situationen Positives hervorzuheben. Die Retter der Juden waren jedoch eine außerordentlich kleine Minderheit und leider nicht typisch für die ungarische Gesellschaft. Wenn man ein realistisches Bild der Geschichte vermitteln will, dann muss man das ganz klar sagen."
Eine weitere Kontroverse: Um ihre rechtsnational-ultrakonservativen Anhänger mit dem Holocaust-Gedenkjahr nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen, beschloss die Orbán-Regierung im Dezember 2013 ein Denkmal zur Erinnerung an die deutsche Besatzung aufzustellen – im Herzen von Budapest nahe des Parlamentes: Es zeigt einen Adler, Symbol für den Einmarsch der Wehrmacht am 19. März 1944, der über den Erzengel Gabriel, das wehrlose Ungarn, herfällt. Der Historiker Krisztián Ungváry beschreibt die Auffassung, die dahinter steckt, so:
"Das Denkmal zeigt ja Ungarn als schuldloses Opfer der bösen Deutschen, nicht der Nazis, das muss man auch noch betonen, der deutsche Adler steht ja nicht die Nazis – sondern für Deutschland, und der stürzt sich auf den ahnungslosen Ungarn herab. Was ich hervorheben möchte, dass diese ganze Denkmalsgeschichte so erkoren war, dass kein Historiker dabei als Ratgeber befragt wurde, beabsichtigt, denn es hätte keinen Historiker gegeben, der das so legitimiert hätte."
"Es hat eine ungarische Version des Nationalsozialismus gegeben"
Viele namhafte Historiker protestierten in einem offenen Brief an die Regierung gegen das Besatzungsdenkmal. Zugleich war es für den größten Teil der jüdischen Gemeinden und Einrichtungen auch der Anlass, die Teilnahme am Holocaust-Gedenkjahr abzusagen. Der Historiker Krisztián Ungváry diagnostiziert hinter dieser Entwicklung ein grundsätzliches Problem:
"Ungarn hat doch eine sehr schwierige Vergangenheit. Es hat eine ungarische Version des Nationalsozialismus gegeben, eine nationalsozialistische Regierung, die allerdings viel kürzer regierte, dafür hatten wir aber noch fünfzig Jahre Systemzeit im Kommunismus zu erleben. Und Ungarn hat keine freie Intelligenz aus dem Westen holen können, die hier das Land saniert. Man musste das mit den Leuten machen, die hier gelebt haben, in zwei Diktaturen, und eine ungarische Verantwortung für diese schrecklichen Taten ist in der Bevölkerung noch nicht richtig verankert, wie es auch in Deutschland in den 60er Jahren nicht verankert war, und dementsprechend ist das sehr schwierig."
István Gábor Benedek. Juni und Juli 1944, Deportation.
"In den Sammellagern in Ungarn wurden wir von ungarischen Gendarmen durchsucht. Das Wichtigste war, dass man Goldschmuck abgeben musste, Ringe, Ohrringe und so weiter und natürlich Geld. Ein Gendarm forderte auch mich auf, alle meine Taschen zu leeren. Ich hatte aber nichts außer einem angelutschten Bonbon, der schon schmutzig war, und sogar den musste ich abgeben. Ich war furchtbar traurig darüber. Dann kamen wir in Waggons, wir wurden unter Schlägen reingestopft. Sechzig, achtzig Leute drängten sich in einem Waggon, es gab einen Eimer für die Notdurft und einen Eimer mit Trinkwasser für die ganze Fahrt."
Besuch im "Haus des Terrors“ auf der Budapester Andrássy-Straße. Das Museum ist unter ungarischen Historikern hoch umstritten. Es setzt die Verbrechen der Nationalsozialisten und der Kommunisten praktisch gleich, stellt den kommunistischen Terror aber stark in den Vordergrund. Maßgeblich verantwortlich für diese Ausrichtung ist die Direktorin Mária Schmidt. Sie hat ihr Büro im fünften Stock und anders als ihr Historiker-Kollege Ungváry keine Schwierigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit in Ungarn.
"In puncto Aufarbeitung des Holocaust stehen wir sehr gut da. Die erste Etappe begann bereits 1945. Wir waren sogar schneller als Frankreich mit der Debatte über das Vichy-Regime. Die Orbán-Regierung hat als erste in Europa den Holocaust-Gedenktag eingeführt. Diesem Beispiel sind viele Länder Europas und der Welt gefolgt, also auch dabei waren wir die ersten."

Mahnmal am Donau-Ufer in Budapest: Schuhe aus Metall erinnern an dort 1944 / 45 von Pfeilkreuzlern erschossene Juden, Aufnahme von 2010.
Mahnmal am Donau-Ufer in Budapest: Schuhe aus Metall erinnern an dort 1944 / 45 von Pfeilkreuzlern erschossene Juden, Aufnahme von 2010.© picture-alliance / Frank Leonhardt
Der ungarische Staat erfüllte Eichmanns Deportationswünsche
Ein idyllisches Bild. Tatsächlich ist in Ungarn immer noch die Ansicht weitverbreitet, dass es vor allem die deutsche Besatzer waren, die den Abtransport der ungarischen Juden in deutsche Vernichtungslager organisierten. Schmerzliche Wahrheiten wie die, dass der ungarische Staat Eichmanns Deportationswünsche mit größtem Eifer übererfüllte, dringen erst langsam ins gesellschaftliche Bewusstsein. Oft bewegen sich Politiker der gegenwärtigen Regierungsmehrheit mit ihren Äußerungen zum Holocaust auch am Rande des Skandalösen. So sagte der Justizminister Tibor Navracsics kürzlich, Ungarn dürfe nicht immer nur in den Tragödien des 20 Jahrhunderts wühlen, es müsse endlich auch nach vorne schauen – Worte, die ausgerechnet in Rede zu einer Holocaust-Gedenkfeier fielen.
István Gábor Benedek. Dezember 1944 bis April 1945 im KZ Bergen-Belsen.
"Die Todesangst war Teil der Luft, sie war in allen Ahnungen, sie hatte alle Existenz durchdrungen. Aber meine Mutter hat interessanterweise niemals mit mir darüber gesprochen, dass wir sterben oder ermordet werden könnten. Das war ihre Art der Menschlichkeit. Sie hat auf diese Weise etwas in mir bewahrt. Ich weiß nicht, was, aber da ist etwas, was sie in mir bewahrt hat.
Ich erinnere mich daran, wie mich der Hunger quälte. Für mich gab es nichts Schrecklicheres als diesen Hunger. Ich erinnere mich auch, dass wir tagtäglich um unser Leben beteten. Es war, als würden wir uns damit täglich selbst retten.
Meine Mutter war eine Heldin. Sie weckte uns jede Nachts so gegen zwei Uhr Uhr auf, wenn der Wasserhahn unserer Baracke frei war, dann mussten wir in der erbärmlichen Kälte raus zum Waschen. Sie spritzte uns regelrecht ab. Damals dachte ich nicht, dass Gott sie segnen möge für diese Gnadenlosigkeit. Sie hat damit unser Leben gerettet, weil wir uns an die Kälte gewöhnten und das Lager überstanden, ohne krank zu werden."
"Haus des Terrors", zweiter Stock. Zehntklässler aus einem ungarischen Provinzstädtchen hören interessiert dem Vortrag eines Museumsführers zu. Der junge Klassenlehrer, der sie begleitet, sagt, es habe mehrere Auswahlmöglichkeiten gegeben, aber die Klasse hätte einhellig für einen Besuch des Terror-Hauses gestimmt. An ihrer Schule spielt der Geschichtsunterricht offenbar eine große Rolle. Zusammen mit einem Geschichtslehrer haben einige Schüler der Klasse im letzten Jahr eine kleine Holocaust-Ausstellung organisiert. Trotzdem ist vieles neu für sie - am Ende des Museumsbesuches sind die Schüler schockiert über das Ausmaß der Grausamkeiten in den totalitären Systemen.
Schüler (13 Jahre alt): "Ich dachte, sei nicht ganz so hart gewesen, aber es war sehr schlimm.“
István Gábor Benedek. August 1945, Rückkehr nach Hause.
"Unser Haus war vollkommen ausgeplündert. Sogar die Dielen waren herausgerissen. Man hatte sie wohl verheizt. Die ersten Worte meiner Mutter waren, dass kein einziges Familienfoto mehr da sei. Auch unsere Katze war nicht da. Irgendwann später tauchte sie auf. Aber sie erkannte uns nicht mehr.