Zähne zeigen

25.03.2013
Auge und Ohr gelten als kulturelle Leitsinne. Die Mundhöhle aber wird unterschätzt - obwohl sie nicht nur Ort der Nahrungsaufnahme ist, sondern die Region, in der die Sprache entsteht. Im Sammelband "Das Orale" werfen die Autoren einen kulturhistorischen Blick auf Mund und Rachen.
"Zahn um Zahn", heißt es schon im Alten Testament. Die Mundhöhle als Ensemble von Zähnen, Zunge, Mund und Rachen ist tief in unserer Alltagssprache verwurzelt - von der "Rede mit gespaltener Zunge" über die "zähneknirschenden Sünder" bis zum "Höllenschlund" des Jüngsten Gerichts. Auch im Grimmschen Wörterbuch finden sich allerlei kulturelle Zuschreibungen: Der "zahnlose Tiger" ist harmlos, doch Gegner sind "bis an die Zähne bewaffnet". Man kann jemandem "auf den Zahn fühlen", "Haare auf den Zähnen" haben, die "Zähne zeigen" oder sich an einem Problem "die Zähne ausbeißen".

Die Mundhöhle ist einerseits in Literatur und bildender Kunst bis zum Kino von heute mit kulturellen Bedeutungen aufgeladen worden. Andererseits hat sich die medizinische Sicht auf das Mundwerk vom "Zahnreißer" des Mittelalters zum kosmetischen Zahnarzt-Chirurgen enorm gewandelt. Das Buch "Das Orale" bringt die getrennten Sphären der Kulturwissenschaft und Medizin erstmals zusammen. Kunsthistoriker und Zahnärzte, Psychoanalytiker und Biologen, Künstler und Ernährungswissenschaftler eröffnen in sechs Kapiteln verschiedenste Perspektiven auf die Mundhöhle. Die Texte werden ergänzt durch 172 farbige Abbildungen - vom mittelalterlichen Bildnis der heiligen Apollonia, Patronin der Zahnheilkunde, über Magnetresonanz-Aufnahmen des Gehirns bei einer Kautätigkeit bis zu zeitgenössischen Kunstwerken wie der "Killing Machine" von Janet Cardiff und George Bures Miller, einer albtraumhaften Installation mit Zahnarztstuhl.

Reflexionen über die Mundhöhle als Tor zur Welt
Das Buch entstammt einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit der beiden Herausgeber, dem Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme und der Zahnärztin Beate Slominski. Herausgekommen ist eine Hommage an eine Körperregion, die in unserer audiovisuellen Kultur (zu Unrecht?) vernachlässigt wird. Auge und Ohr gelten als kulturelle Leitsinne, doch die Mundhöhle ist nicht nur Ort der täglichen Nahrungsaufnahme, sondern die Region, in der die menschliche Sprache entsteht. Erst durch den Erwerb sozialer und kommunikativer Kompetenzen konstituiert sich der Mensch als gesellschaftliches Wesen, schreibt Böhme, und fragt polemisch-provokant: "Darf man sagen, dass im Mundraum das Subjekt geboren wird?" Er reflektiert über die Mundhöhle als Tor zur Welt, wo im Zusammenspiel von Zunge, Zähnen, Kehlkopf und Atemluft Sprache erzeugt wird, das "Wunder" der menschlichen Kommunikation.

Die extreme Bandbreite der Texte führt oft zu Brüchen, die Textauswahl wirkt dann beliebig: Auf das Kapitel "Der performative Zungenkuss" folgt etwa "Die Angst des Zahnarztes vor dem Patienten". Dennoch: Das Buch erschließt das faszinierende Panorama einer Körperregion, die trotz ihres kulturellen und medizinischen Reichtums an Bedeutungen weitgehend eine "terra incognita" geblieben ist. Ein Ort, der nur sporadisch von den grellen Halogenlampen beim Zahnarztbesuch durchleuchtet wird. Dass er jetzt mehr ins Blickfeld rückt, ist dieser wunderbar illustrierten, außergewöhnliche Entdeckungsreise in die Welt der Mundhöhle zu verdanken. Gut so. Für Mediziner und Kunstinteressierte gleichermaßen lesenswert!

Besprochen von Tabea Grzeszyk

Hartmut Böhme/ Beate Slominski (Hrg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2013
348 Seiten, 39,90 Euro


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