Xiaolu Guo: "Es war einmal im Fernen Osten"

Fremdes Europa, vertrautes China

Buchcover von Xiaolu Guo: "Es war einmal im Fernen Osten"
Buchcover von Xiaolu Guo: "Es war einmal im Fernen Osten" © Knaus Verlag / picture alliance
Von Hans von Trotha · 04.12.2017
Mit gerade einmal 45 Jahren legt die chinesische Autorin und Filmemacherin Xiaolu Guo ihre Biografie vor. Es ist die Geschichte einer entbehrungsreichen Kindheit, einer Flucht nach Europa - und einer entscheidenden Entdeckung.
"Im Anbeginn der Zeit gab es weder Osten noch Westen". Der Anfang von Xialu Guos "Es war einmal im Fernen Osten" ist einem chinesischen Klassiker aus dem 16. Jahrhundert entlehnt: In "Die Reise nach Westen" brechen Pilger gen Westen auf. Die Reise verläuft anders als erwartet, endet jedoch "voller Schalk und Lebensfreude, aber auch voll tiefstem Wissen."
Damit ist der Bogen des neuen Buchs der Autorin und Filmemacherin Xiaolu Guo vorgezeichnet. Sie hat mehrere Romane vorgelegt und nun, nicht einmal 45-jährig, ihre Autobiografie. Vieles davon fand sich schon in ihren Büchern, zitiert, geformt und durchgearbeitet. Nun liegt es gleichsam nackt vor uns, gnadenlos, roh.

Ohne Gnade, ohne Raffinesse

Es ist eine harte Geschichte, direkt erzählt, ohne Vorsicht, ohne Rücksicht, man könnte auch sagen: ohne Gnade und ohne Raffinesse. Wie weit dies Mangel an oder Verzicht auf Erzählkunst ist, fragt man sich bald nicht mehr. "Ich bin nicht besonders sentimental veranlagt und weine im Kino und auf Beerdigungen fast nie", schreibt Guo sehr glaubhaft. Es muss aber gar keine Veranlagung sein. Die entbehrungsreiche, zum Teil brutale, von bitterer Einsamkeit geprägte Kindheit und Jugend lässt für Sentimentalität nicht viel Raum.
Das wird schon bald klar: "Ich kam als Waise zur Welt." Tatsächlich wächst sie bei den Großeltern auf, die in einem Fischerdorf am südchinesischen Meer ein Leben führen, als sei es ein Roman aus dem 19. Jahrhundert. 1980 holen die Eltern sie zu sich in einen kommunistischen Wohnhof, wo Mao und die Kulturrevolution noch erschütternd präsent sind. Guo wird brutal missbraucht und muss abtreiben. "Es war ein Fluch, als Frau geboren zu werden. Das Schlimmste, was einem passieren kann."
Das Buch ist Marguerite Duras gewidmet, "die mir in den harten, kämpferischen Jahren in Südchina den Glauben daran gab, Künstlerin zu werden". Mit 14 wird Guos erstes Gedicht veröffentlicht. Nach den Massakern von 1989 geht sie nach Peking, um Film zu studieren. Der nächste Traum: Europa. Auch das erreicht sie, ein Stipendium bringt sie nach England. Die Einsamkeit aber bleibt.

Europa - ein Rätsel für Chinesen

Da kommt es zu der entscheidenden Entdeckung, die dem Buch seine Bedeutung gibt. Ihr fehlt China mitsamt der Geschichte, die auch die ihre ist: "China war meine Inspirationsquelle, ich brauchte es, um kreativ zu sein, um denken und verstehen zu können. Ab sofort wollte ich das China meiner Jugend nie mehr verleugnen."
Die chinesische Kultur, deren Sprache nur das Präsens kennt, die chaotisch, aber kreativ ist, grausam, aber inspirierend, ist die ihre, nicht die europäische, wie sie sich ihr etwa in der Bewunderung der Engländer für Industriedenkmäler zeigt: "Was die Londoner an derart trostlosen Anblicken reizvoll fanden, musste einem Chinesen ein Rätsel bleiben." Auch gegen die englische Sprache begehrt sie auf, obwohl sie "logischer zu sein schien als chinesische Grammatik. Aber wozu sollte Logik überhaupt gut sein? In China ist logisch fast gleichbedeutend mit unhöflich."
Für einen Lebensbericht ist Xialo Guo recht jung. Doch sie hat einen Frieden gefunden, der ein Kapitel beendet und ein neues eröffnet.

Xiaolu Guo: Es war einmal im Fernen Osten. Ein Leben zwischen zwei Welten
Aus dem Englischen von Anne Rademacher
Knaus Verlag, München 2017
368 Seiten, 24 Euro