Wurzeln der Gewalt auf dem Balkan

20.06.2013
Der Historiker Alexander Korb untersucht in seinem neuen Buch die faschistische Gewaltherrschaft auf dem Balkan während des Zweiten Weltkriegs. Er erläutert, wie die Führung des "Unabhängigen Staats Kroatien" an die Macht kam - und den deutschen Rassenwahn für ihre Zwecke nutzte.
Der Zweite Weltkrieg ist noch lange nicht zu Ende. Seine Schatten werden sogar länger, je feiner neue Historiografie ihre Konturen zeichnen, je tiefenschärfer sie ihre Dunkelheit ausleuchten kann. Der Zerfall des multiethnischen Nachkriegskonstrukts "Jugoslawien" mit blutigen "ethnischen Säuberungen", die Balkankriege am Ende des 20. Jahrhunderts, die bis heute akuten angeblich unversöhnlichen serbischen, kroatischen, albanischen, makedonischen Nationalismen – all das weist auf ein nie entwirrtes altes Gestrüpp, das seinerseits weitgehend unbearbeitet in jenem anderen Weltkrieg wurzelt, der spätestens zu seinem hundertsten "Geburtstag" 2014 das Nachdenken über das "Jahrhundert der Gewalt" beherrschen wird. Und speziell über Europa.

Es scheint nur ein kleiner Teil des Balkangestrüpps zu sein, das der Historiker Alexander Korb in seinem Buch freigelegt hat: der Teil, der vier Jahre lang "Unabhängiger Staat Kroatien" (USK) hieß. Die Wehrmacht hatte ihn im April 1941 erobert, die Achsenmächte Deutschland und Italien hatten die faschistische Ustaša als Vasallenregime eingesetzt, und die herrschte auch nach der Kapitulation Italiens im September 1943 weiter – bis zur Befreiung, die hier im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern nicht von außen kam, sondern vom eigenen Partisanenwiderstand.

Die faschistische Ustaša ermordete Serben, Juden und Roma
Aber Korb nimmt dieses spezifische Geäst als nutshell für eine ganze Epoche mit Wirkungen bis heute. Der USK mit seiner überaus grausamen Herrschaft musste den mörderischen deutschen Rassenwahn keineswegs aufoktroyiert bekommen. Der Boden war längst bereitet, "die Nazi-Herrschaft und den Holocaust für eigene ethnische Homogenisierungsprojekte zu nutzen" – wie überall in Mittel- und Südosteuropa. Die Ustaša "entfachte einen Bürgerkrieg, dem 500.000 Menschen zum Opfer fielen – und zwar zumeist durch die Hände ihrer eigenen Landsleute": Serben und Kroaten, aber auch Muslime, Roma und allein drei Viertel der kroatischen Juden.

Vertreibung, Terror, Raub, Mord, Konzentrationslager wie Jasenovac: Ustaša-Kroatien ist "paradigmatisch für die Beteiligung nichtdeutscher Täter an der Gewalt des Zweiten Weltkriegs". Ein heikles Thema, lange verborgen im Schatten der Schlaglichter auf die deutschen Täter und Taten, gemieden aus Angst, die deutsche Schuld zu relativieren, weichgezeichnet durch Selbstfiktionalisierung der Mittäter als Opfer.

Eine Herausforderung, gerade für einen deutschen Historiker. Korb meistert sie souverän – nicht nur, weil er detailliert dokumentiert und obendrein brillant erzählen kann. Vor allem denkt er über Tellerränder hinweg, verknüpft er Holocaust-, Genozid-, Faschismusforschung methodisch mit der neueren mikrosoziologischen Gewaltforschung, um den Blick scharf zu stellen auf die realen Taten der Ustaša und die Bedingungen, unter denen sie möglich waren. So entwickelt er "eine Grammatik der Gewalt", differenziert verästelt wie Mandelbrots fraktale Küstenkonturen. Aber genau dadurch bekommt dieser besondere Fall – mit seinen zufälligen Dynamiken und welt- und lokalpolitischen Kontexten – universale Bedeutung. Wer heute nach der "Idee von Europa" sucht, muss Korb lesen: Sein Buch ist das "Negativ" dafür.

Besprochen von Pieke Biermann

Alexander Korb: Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941–1945
Hamburger Edition, Hamburg 2013
510 Seiten, 33 Abbildungen, 28 Euro