Wunden der Leere

09.04.2013
Was Erdbeben und Atomkatastrophe in Japan angerichtet haben, zeigt der Fotograf Hans-Christian Schink auf 62 Bildern, vor allem Naturaufnahmen. Oft deutet er das Ausmaß der Zerstörung nur an. Das private Unglück der Menschen hat er nicht abgebildet, denn Schink will nicht auf die Tränendrüse drücken.
Die erste Aufnahme wirkt wie eine zusammenfassende Metapher auf das Thema des ganzen Bandes: Man sieht auf eine weite, menschenleere Küstenlandschaft – im Vordergrund flaches Schwemmland, von Schnee bedeckt, im Hintergrund ein dunkler Höhenzug, den der Winternebel fast verhüllt. Der Nebel, der Schnee und ein farbloser Himmel erzeugen eine fahle Entrücktheit des Panoramas, das mit seiner Poesie feiner Andeutungen wie eine Reminiszenz des Fotografen an japanische Landschaftsmalereien der Edo-Zeit wirkt.

Vereinzelt durchbrechen Gräser und Wasserflächen die Schneedecke, da und dort liegen verkrümmte Baumstämme, erratisch ragt ein schwarzer Betonquader aus dem Wasser; in der Ferne durchziehen Strommasten aus Holz die gesamte Bildbreite.Solchen einsamen Strommasten, gebrochenen Bäumen und verstreuten Betonteilen begegnet man in den 62 Aufnahmen dieses Bandes immer wieder wie stereotypen Verweisen auf die Vorgeschichte, das Tohoku-Erdbeben des 11. März 2011, durch das diese Landschaft vom Tsunami verwüstet worden war. Hans-Christian Schink bereiste die betroffenen Regionen ein Jahr nach der Katastrophe und somit zu einem Zeitpunkt, da die Aufräumarbeiten bereits fortgeschritten und die Trümmerberge vielfach beseitigt waren.

Seine Aufnahmen verstehen sich nicht mehr als unmittelbare Dokumentationen. In vielen Fällen ist die Katastrophe nur noch in Andeutungen zu erahnen. Wenige Bilder beschwören die Naturgewalten so dramatisch, wie die aus ihren Fundamenten gerissenen und übereinander gestapelten Häuser in Ogatsucho, einem der zerstörten Orte in der Präfektur Miyagi. Schink hatte, wie er selbst sagt, kein Interesse daran, intime Momente des Unglücks zu zeigen, obwohl es dazu nach wie vor vielfach Gelegenheit gegeben hätte. Das vordergründig Emotionalisierende aber war nie der Stil des 1961 in Erfurt geborenen Künstlers.Stattdessen hat Schink in seiner pittoresk-nüchternen Fotografie immer wieder einen Zusammenhang zwischen Natur und bebauter Landschaft gesucht, der ein romantisches Moment des Erhabenen erahnen lässt.

Schon in seiner berühmt gewordenen Serie zu den "Verkehrsprojekten Deutsche Einheit" ab 1995 galt seine Faszination der Naturzerstörung durch technischen Fortschritt. In seiner Japan-Serie wird dieses Thema gleichsam umgekehrt, die Zerstörung erfolgt durch die Naturgewalt und wird immer wieder anhand einstiger Stadtgrundrisse sichtbar, in denen nur noch ein verwaistes Gitternetz von Straßen auf die Ortschaft deutet; oder in den abrasierten Wäldern, abgerutschten Berghängen, überschwemmten Flussbetten der Umgebung. Hier hat kein Wiederaufbau stattgefunden, der in die Landschaft eingreift; stattdessen sieht man die verbliebenen Wunden der Leere, und die Zeit scheint stillzustehen in einem Moment der Erstarrung, vielleicht der Transzendenz.

Lediglich eine notdürftige Stromversorgung ist wieder hergestellt – und die überall durch das Nichts hindurchführenden, hölzernen Strommasten, die nach 2011 errichtet wurden, lassen die abgründige Stille beklemmender spüren. Diese Balance aus ästhetischer Reflexion und notwendiger Behutsamkeit gegenüber seinem Gegenstand ist es, die die Aufnahmen Hans-Christian Schinks zu einer außergewöhnlich eindringlichen Annäherung an die geschundene Region werden lassen.

Besprochen von Carsten Probst

Hans-Christian Schink: Tohoku. Mit einem Essay von Rei Masuda,
Hatje Cantz, Ostfildern 2013. 132 Seiten, 39,80 Euro