Woran arbeiten Sie gerade, Herr Selke?

Mit Storytelling Botschaften transportieren

Stefan Selke, Soziologe und Professor an der Hochschule Furtwangen, gilt als Kritiker der "Tafeln" für Bedürftige.
Stefan Selke, Soziologe an der Hochschule Furtwangen © picture alliance/dpa/Horst Galuschka
Stefan Selke im Gespräch mit Anke Schaefer · 29.12.2016
Der Soziologe Stefan Selke bedient sich für sein nächstes wissenschaftliches Vorhaben der Methode des Storytelling: Am Beispiel von Geschichten will er sein Thema - die Verteilungsgerechtigkeit - in einer soziologischen Reportage verdeutlichen.
Bei an Wissenschaft interessierten Laien hat Stefan Selke, Professor für Soziologie und Gesellschaftlichen Wandel an der Hochschule Furtwangen, sicherlich einen fetten Stein im Brett. Er plant nämlich die Niederschrift einer soziologischen Reportage zum Thema Verteilungsgerechtigkeit. Dafür greift er auf die Methode des Storytellings zurück:
"Mittels einer Geschichte, eben mittels eines Storytelling-Ansatzes versuche ich, das jetzt für interessierte Kreise zugänglich zu machen, und zwar jenseits von Theorien und komplexen Erklärungen."
Es gehe schließlich um die Probleme und Themen realer Menschen - und diese könne man am besten durch konkrete Geschichten beispielhaft verdeutlichen.
Der Soziologe Stefan Selke spricht auf den Aktionstagen "Armgespeist! 20 Jahre Tafeln sind genug!" vor dem Brandenburger Tor am 26.04.2013 in Berlin. Die Performance übt Kritik am Tafel-System. Ziel der Aktionstage ist es, die kritische Debatte im Hinblick auf die Ausbreitung von Tafeln
Der Soziologe Stefan Selke bei einer Aktion gegen die "Tafeln" am Brandenburger Tor.© picture alliance/dpa/Stefan Schaubitzer
"Sie sollen Menschen wachrütteln und möglicherweise in Politik, aber auch in unserem Lebensalltag tatsächlich zu einer Veränderung führen. Das ist eigentlich das Wesentliche für mich an dem Storytelling."
Innerhalb der internationalen Wissenschaftscommunity sei es als Forschungsmethode anerkannt. Nur im deutschsprachigen Raum tue man sich schwerer damit.

Das Interview im Wortlaut:

Anke Schaefer: Woran arbeiten Sie gerade? - Das fragen wir jetzt Professor Stefan Selke, einen Mann, der sich für Wandel und für Veränderung interessiert, für den gesellschaftlichen Wandel, und deshalb ist er Professor für Soziologie und Gesellschaftlichen Wandel an der Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft der Hochschule für angewandte Wissenschaften Furtwangen im Schwarzwald. Er hat als Soziologe eine Mission, er möchte nämlich in die Gesellschaft hineinwirken und dazu das Storytelling wiederbeleben, also das Geschichtenerzählen. Er will einer sogenannten narrativen Soziologie den Weg bereiten. Guten Tag, Herr Professor Selke!
Stefan Selke: Guten Tag, ich grüße Sie!
Schaefer: Woran arbeiten Sie denn ganz konkret, gerade?
Selke: Ganz konkret schreibe ich tatsächlich an einer soziologischen Geschichte, einer Reportage über Verteilungsgerechtigkeit. Das ist ja ein sehr komplexes Thema, aber mittels einer Geschichte, eben mittels eines Storytelling-Ansatzes versuche ich das jetzt für interessierte Kreise zugänglich zu machen, und zwar jenseits von Theorien und komplexen Erklärungen.
Schaefer: Aber wenn wir natürlich das Wort Storytelling hören, also Geschichtenerzählen, hören, dann denken wir eher, ich sag jetzt mal, an einen Märchenonkel, nicht so sehr an einen Wissenschaftler. Inwiefern kann Storytelling wirklich eine wissenschaftliche Methode sein?
Selke: Es wird innerhalb der wissenschaftlichen Community, zwar nicht unbedingt im deutschsprachigen Raum, aber international doch schon als eine wissenschaftliche Forschungsmethode angesehen. Wissenschaftler recherchieren genauso wie gute Schriftsteller und Journalisten, und Journalisten und Schriftsteller analysieren Gesellschaft, genauso wie Wissenschaftler.

Die Botschaft soll ankommen und emotional berühren

Also, da werden Grenzen mittlerweile überschritten. Und ich glaube, die Kunst liegt einfach darin, dass man in eine gute Geschichte, die Menschen erreicht, die sie auch berührt, die Analyse einbaut, in die Dialoge einbaut oder in bestimmte Einschübe einbaut, sodass man auf diese Art und Weise praktisch die Inhalte, die Erklärungen mit transportiert, und zwar auf eine Art und Weise, die tatsächlich dann auch bei den Menschen ankommt, die sie emotional berührt, jenseits von trockener Theorie. Und das funktioniert, dafür gibt es Beispiele, und daran versuche ich mich eben.
Schaefer: Sagen Sie uns noch ein Beispiel.
Selke: Es gibt zum Beispiel im internationalen Raum Fiktionen, also erfundene Geschichten, die Geschlechterverhältnisse thematisieren, also das, was in den Gender Studies dann theoretisiert wird. Oder es gibt Geschichten, die Armut auch wirklich plastisch sichtbar machen in einer Gesellschaft.
Das sind ja hochkomplexe Probleme, aber es betrifft immer reale Menschen. Und wenn man diese Geschichten aufspüren kann und wenn man das Wesentliche dieser Geschichten im Kern, auch an einer Person deutlich machen kann, dann gelingt es, glaube ich, diesen gesellschaftlichen Wandel, den Sie angesprochen haben – wir leben ja in stürmischen Zeiten, wir brauchen packende Analysen, um etwas zu verändern –, dann gelingt es tatsächlich, das in Geschichten zu packen und Storytelling zu betreiben, ohne den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu verlieren.

Es geht nicht nur um die schöne Geschichte

Weil es geht ja nicht darum, irgendwie nur schöne Geschichten zu erzählen, sondern diese Geschichten haben eine Aussage, und diese Geschichten sollen auch etwas verändern. Sie sollen Menschen wachrütteln und möglicherweise in Politik, aber auch in unserem Lebensalltag tatsächlich zu einer Veränderung führen. Das ist eigentlich das Wesentliche für mich an dem Storytelling.
Schaefer: Und machen Sie als Wissenschaftler, als Soziologe dann auch ihre Haltung einem bestimmten Thema gegenüber deutlich?
Selke: Das ist eine sehr spannende Diskussion, inwieweit man sich einbringen darf und soll, und ich persönlich denke, dass das bei den Themen unserer Zeit, den sogenannten entgrenzten Problemen, den verhexten Problemen, denen wir gegenüber stehen, also dem Verteilungsproblem, dem Gerechtigkeitsproblem, dass man da eigentlich Haltung beziehen muss und auch kann. Und über diese Geschichten ist das eben dann auch möglich, ohne dass das gleich zu pathetisch wird und zu wertegeladen und zu emotional. Ich würde sagen, dass das möglich ist, sich als Wissenschaftlerin oder als Wissenschaftler mit einer Haltung in so einer Geschichte dann tatsächlich auch einzufinden, ja.
Schaefer: Wenn Sie sagen, Sie wollen sozusagen die erzählerische Wahrheit einer Art von Objektivitätsgläubigkeit eventuell entgegensetzen, können Sie sich da auf eine Zeit berufen, in der es so einen Ansatz schon mal gab?
Selke: Es gab in der Soziologie eine goldene Ära der Erzählungen. Das war dann tatsächlich ein sehr beliebtes Mittel, über Sozialreportagen gesellschaftliche Missstände deutlich zu machen, in den 1920er-Jahren zum Beispiel in den USA. Da gab es die berühmte Chicago School of Sociology. Da hat man sehr viel auch mit journalistischen und literarischen Methoden gearbeitet, Grenzgängertum betrieben, würden wir heute sagen.

Die Menschen wachrütteln

Und man hat auch Gesellschaft dadurch verändert, also die Menschen wachgerüttelt. Es kam zu Gesetzesänderungen, Kinderarbeit wurde verboten. Also, all diese Dinge haben funktioniert, und ich glaube, wir haben auch jetzt wieder globale Probleme, planetarische Probleme, aber auch Erschöpfungssyndrome in unserer Gesellschaft, wo wir Menschen einen Weg zeigen müssen, wo wir Veränderungen darstellen müssen, und das kann man exemplarisch sehr gut an Geschichten tun. Menschen sind erzählerische Wesen, lieben Geschichten auf allen Ebenen, und ich sehe keinen wirklichen Grund darin, warum gerade so eine Wirklichkeitswissenschaft wie die Soziologie darauf verzichten sollte.
Schaefer: Das sagt Stefan Selke. Ich habe mit ihm gesprochen in unserer Reihe "Woran arbeiten Sie gerade?" Er ist und nennt sich selbst "öffentlicher Soziologe". Vielen Dank, Herr Professor Selke, für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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