Woodstock am Niederrhein

Von Michael Laages · 24.05.2010
Ausgerechnet nächstes Jahr zu Pfingsten, zum 40-Jahre-Jubliäum, könnte eines der renommiertesten europäischen Jazz-Festivals die Flügel gestutzt bekommen. Steht das "Moers Festival" in Zeiten der Krise vor dem Aus?
So war das ja auch früher immer – Trommeln, immerzu Trommeln, wohin das Ohr auch hört allüberall zwischen den ungezählten bunten Pfingsturlauberzelten im weiträumigen Freizeit-Park, der sich vom Stadtwall rund ums Schloss der kleinen Stadt bis fast hin an die Autobahn erstreckt, die von Duisburg bis an die niederländische Grenze führt; Trommeln den Tag über und Trommeln oft auch bis weit in die Nacht. Wer immer sich rhythmisch halbwegs auf der Höhe fühlte, war immer und ist auch heute noch willkommen.

Zwischen der Zeltstadt und dem eigentlichen Festival-Zelt erstreckt sich noch immer der Markt, Fressfest und multikultureller Grabbeltisch in einem; kein modischer Schnickschnack, den es hier nicht gibt an über 200 Ständen. Und an den Feiertagen kommen die einheimischen Moerser auch immer noch "Hippies-Gucken" - außergewöhnlich schräg und schrill, abgewrackt und aufgedonnert geben sich die durchreisenden Dorfbewohner heute wie vor drei Jahrzehnten, wie oft die Moden mittlerweile auch gewechselt haben mögen.

Heimkehren nach Moers und zum Festival, das den Namen der kleinen Stadt weltberühmt gemacht hat – das ist noch immer wie ein Sturz heraus der Zeit. Nicht, dass sie stillstände – nur vergeht sie halt anders im kleinen gallischen Dorf am Niederrhein: vorwärts, rückwärts, seitwärts, im Kreis ... aber immer im Rhythmus der Trommeln.

Wer wohl wirklich wie viel wissen wollte vom eigentlichen Ereignis der vier Pfingst- und Festival-Tage, inwieweit die frühsommerlich urlaubswütige Pfingst-Gemeinde vielleicht ja auch einfach bloß sich selber feiern wollte und die eigenen, aufs Deutsch-Niederrheinische herunter gebrochene Woodstockhaftigkeit - das war schon damals und ist auch heute nicht klar. Ob also der norwegische Gitarren-Altstar Terje Rypdal das mit der Bigband aus der norwegischen Hafenstadt Bergen realisierte Film- und Musik-Projekt "Crime Scene" nicht eigentlich am Publikum vorbei spielt – wer könnte das sagen?

Die Ambition lastet schwer auf dem Eröffnungskonzert - kurze Filmtexte (aus "Taxi Driver" etwa oder "Pate") stehen neben wuchtigen Jazz- und Rock-Konstrukten für Rypdal selbst, die Band und den dänischen Meister-Trompeter Palle Mik-kelborg. Mitte 60 sind die Herren inzwischen – und übers Ganze betrachtet hat das Moers-Festival des heute zu Ende gegangenen Jahrgangs einen faszinierenden Dreisprung der Generationen hin bekommen.

Der "Stand der Dinge" reicht vom wunderbar unvergreisbaren Free-Jazz-Urgestein Peter Brötzmann und Stars wie eben Rypdal über die mittlere Generation derer, die (wie etwa Georg Graewe) jung waren in den Achtzigern bis zu den völlig uneinsortierbaren, wenig ambitionierten, dafür umso spielwütigeren Kids von hier und heute; dazwischen siedeln Meister jenseits der Kategorien, wie etwa gleich zweimal der Gitarrist Bill Frisell, und Entdeckungen jüngerer Zeit wie der Saxophonist Colin Stetson ...

Ob der jeweils "letzte Schrei" nun dabei war oder nicht - wen schert’s ... Im Ernst - Jazz war immer und blieb bis heute die Musikform mit der am radikalsten, am grundsätzlichsten befreiten Beweglichkeit; größere Sprünge nach vorn korrespondieren da immer mit kleineren zurück. Wie bei den Freizeit-Trommlern im Freizeit-Park ... mit dem im Supermarkt um die Ecke im biederen Stadtteil Hülsdonk entliehenen Einkaufswagen karren sie Wasser und Bier, Würstchen und Chips zu den Zelten; und machen das Festival der offenen Ohren und Augen zu ihrem kleinen Pfingst-Nirvana.

Werden sie weg bleiben, wenn das Fest im nächsten, dem Jubliäumsjahr, um einen Tag reduziert würde und am letzen Tag irgendein hip-kommerzielles Spektakel angehängt bekäme, das die Kasse womöglich besser füllt als das jetzt der Fall ist? Schwer zu sagen. Der im fünften Jahr nach Gründungsdirektor Burkhard Hennen tätige neue Fest-Chef Reiner Michalke hat diesen (sicher hinnehmbaren) Kompromiss angeboten, wenn nur so, wirklich nur so das Fest als Ganzes zu retten wäre – Moers selbst jedoch ist ohne dieses Fest nicht mehr zu denken. Die Stadt schafft sich ab, wenn sie es preisgibt.