"Wollen Sie jeden Blogger kontrollieren?"

Moderation: Jürgen König · 30.08.2007
Der Chefredakteur von "Spiegel Online", Matthias Müller von Blumencron, lehnt eine zentralisierte Medienaufsicht für das Internet ab. "Im Printbereich gibt es eine sehr gute Selbstregulierung, und etwas Ähnliches muss sich auch im Onlinebereich entwickeln", sagte der Journalist. Missbrauch gebe es überall, doch "die Ermittlungsbehörden kümmern sich natürlich glücklicherweise mittlerweile auch um das Feld Online sehr intensiv".
Jürgen König: In Berlin wird heute die Funkausstellung eröffnet, der Branchentreff, wie es heißt, bringt viele Medienfachleute zusammen. Eines der großen Themen dieser Messe ist die Frage, wie das Internet den Journalismus verändert hat und weiter verändern wird. Am Telefon Matthias Müller von Blumencron, er ist Chefredakteur von "Spiegel Online". Guten Tag, Herr von Blumencron.

Matthias Müller von Blumencron: Guten Tag, Herr König.

König: Das Netz ist für jedermann zugänglich, jeder kann schreiben, kann veröffentlichen, jeder kann auch Journalist sein, kann als Bürgerreporter unterwegs sein, kann Blogs veröffentlichen, Tagebücher. Stellen wir die Frage mal ganz groß, inwieweit hat das Internet den Journalismus verändert?

Blumencron: Das ist eine interessante Frage, denn im Prinzip sind die Regeln des Journalismus die gleichen, ob Sie online arbeiten oder ob Sie print arbeiten. Sie müssen online gut recherchieren, Sie müssen gut schreiben, Sie müssen gute Themen haben, Sie müssen die Leser einfangen, ansprechen, gut informieren. Das alles ist im Prinzip genau das gleiche wie in etablierten Medien, wie auf der Printseite.

Insofern hat das Medium an sich keinen Einfluss auf den Journalismus. Dennoch sehen wir interessante Entwicklungen, die eher auf der konzeptionellen Ebene liegen. Man kann sich zum Beispiel fragen, haben einige Verlage eigentlich noch Lust auf Qualität, auf Qualität im Netz, haben Sie noch Lust auf Journalismus im Netz, oder haben Sie nicht eher Lust auf Plattformen über Preisvergleiche?

König: An welche Verlage denken Sie da?

Blumencron: Man braucht sich nur in der Branche umzugucken, es gibt einen riesigen Kaufrausch, nahezu jeder Verlag überlegt sich im Moment, was kann ich im Internet anstellen, was für eine Plattform muss ich mir kaufen, um im Internet Gewinne zu erwirtschaften. Und häufig sehen wir eben, dass Social Networks gekauft werden, dass Shopping-Plattformen gekauft werden und Ähnliches, nicht unbedingt journalistisch betriebene Plattformen.

König: Die Zeitungsverleger wiederholen ja nun trotzdem gebetsmühlenartig, dass es die Zeitung als Medium immer geben wird. Wie sehen Sie das? Könnte "Spiegel Online" eines Tages wichtiger werden als der "Spiegel"?

Blumencron: Na ja, ich meine, der "Spiegel" ist ein hervorragendes Magazin, und wird es auch lange bleiben. Ich glaube, es ist ein sehr relevantes Magazin, das beste, was wir in diesem Land haben, aber ...

König: ... aber unübersehbar ist, dass "Spiegel Online" wächst und wächst und wächst. Vielleicht halten wir eines Tages die letzte gedruckte Ausgabe des "Spiegel" in den Händen. Sie können ja leise antworten, dann hört es der Stephan Aust nicht so.

Blumencron: Ich antworte lieber laut und verständlich. Ich glaube auch daran, dass es noch lange Papier geben wird. Es wird auch noch lange Tageszeitungen geben. Es ist die Frage, was für Tageszeitungen es geben wird und in welcher Form die Tageszeitungen sich verändern müssen, in welche Richtung sie sich verändern müssen. Natürlich übernehmen die Online-Seiten mehr und mehr das Geschäft der Tageszeitungen. Wir informieren, wir analysieren auch, wir bringen Reportagen, Features, Interviews - all das, was eine gute Tageszeitung bisher gemacht hat.

Eine Tageszeitung muss sich also überlegen, wie gehe ich mit dieser Herausforderung online um, wie verändere ich das Papier? Sicherlich muss eine Tageszeitung hintergründiger werden, eine Tageszeitung muss sich auf Metathemen stürzen, sie muss die Zeit nutzen, die sie hat, sie hat ja einen Redaktionsschluss, während wir online überhaupt keinen Redaktionsschluss haben und manchmal ein wenig atemlos daherkommen. All das kann in einer Tageszeitung anders sein - kann anders sein, wenn man bereit ist, dieses Produkt zu verändern.

König: Herr von Blumencron, weil Sie gerade so in den redaktionellen Alltag hineinschauen. Für all diejenigen, die das vielleicht nicht so präsent im Kopf haben, beschreiben Sie uns das doch mal. Sie selber haben ja noch den klassischen Printbereich miterlebt, haben in den späten 80ern angefangen, waren bei "Capital", in der "Wirtschaftswoche", dann im "Spiegel", waren als Korrespondent in New York zuletzt, sind seit 2000 Chefredakteur von "Spiegel Online". Beschreiben Sie uns doch mal die unterschiedlichen Arbeitsweisen der Print- und der Onlineredakteure.

Blumencron: Am einfachsten ist der Vergleich mit einem Monatsblatt. Ein Monatsblatt hat sicherlich eine sehr distinguierte, eine sehr abgehobene Atmosphäre, man hat Zeit, sich über Themen Gedanken zu machen, man kann in Ruhe recherchieren.

Das Onlinemedium ist so ungefähr das Gegenteil. Wir werden ständig mit neuen Nachrichten konfrontiert, und man muss sehr schnell entscheiden: Was ist wichtig und was ist unwichtig? Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist, für den Leser dieses unglaubliche Chaos, was wir da draußen haben, zu filtern, es zu sortieren, den Lärm, den der Zuschauer am Tagesgeschehen erfahren dort draußen, den Lärm, den er ständig um sich herum hat an neuen Nachrichten und so weiter, den zu kanalisieren und ihm klarzumachen, dies ist wirklich wichtig, damit musst du dich auseinandersetzen, dies ist für dich bedeutend, und das andere lassen wir mal weg.

Und diese Entscheidung muss man quasi jede Minute fällen, jede Minute entscheiden, in dieses Thema stecke ich mehr Energie, in dieses Thema stecke ich ganz wenig Energie, und dieses Thema lasse ich weg.

König: Die Anforderungen an den Journalisten sind sehr viel größer geworden.

Blumencron: Man muss schneller entscheiden, man muss ein sehr sicheres News-Judgement haben, denn man hat eben nicht, wie bei der Tageszeitung, einen Redaktionsschluss, der Stunden später ist. Sondern der Leser erwartet von den Onlinemedien, sehr schnell informiert zu werden.

Und nicht nur das, sondern er erwartet natürlich dann, und das ist die Kunst, eine möglichst kluge Analyse. Und da muss man auch sich auch mal Zeit nehmen, muss man auch sich ein Stück zurücklehnen, muss Tempo rausnehmen aus der Redaktion und sagen, dieses Thema analysieren wir jetzt, und damit kommen wir erst ein paar Stunden später oder sogar erst am nächsten Morgen. Denn erst in dieser Zeit schaffen wir es vernünftig.

König: Wie groß ist bei dem Zeitdruck die Versuchung, bei der Recherche großzügig zu verfahren?

Blumencron: Großzügig, ironisch formuliert, diese Versuchung ist da, Sie können ja ständig publizieren, wir können ständig eine Meldung rausschießen. Die Versuchung ist da, und ich glaube, eine gute Redaktion unterscheidet sich von einer schlechten Redaktion darin, dass man dieser Versuchung nicht ohne weiteres nachgibt.

Wir haben viele Erfahrungen gemacht, wir haben uns auch die Finger verbrannt, indem wir zu schnell waren. Wir sind mittlerweile etwas gelassener geworden, wenn News auf uns hereinprasseln, und nehmen uns die Zeit, die wir brauchen, um diese Nachrichten vernünftig zu bewerten und zu kanalisieren.

Nichtsdestotrotz haben wir natürlich online die Möglichkeit, dynamisch zu arbeiten, das heißt, wir kommen mit einer kurzen Meldung raus und sagen dem Leser, dass wir auch nicht viel mehr wissen, als diese zwei, drei Sätze, die wir gerade aufgeschrieben haben. Und sagen ihm, er soll ein bisschen abwarten, in Kürze gibt es dazu mehr auf "Spiegel Online".

Und dann bauen wir die Geschichte langsam auf und informieren den Leser dynamisch und fortlaufend über das, was da draußen passiert und wie sich dieses Ereignis entwickelt. So macht man es bei wirklich wichtigen Ereignissen, also einem neuen Terroranschlag oder etwas ähnlichem.

König: Wäre nicht eine Arbeitsteilung denkbar für die Zukunft, dass die Online-Medien sozusagen das Aktuelle sehr schnell abbilden und dass die Tageszeitungen, auch die Wochenzeitungen, das Radio, vielleicht auch das Fernsehen - wobei ich da glaube, noch eher am wenigsten - dann wirklich den großen, analytischen Apparat aufbauen und dem Leser wirklich mit Ruhe zur Verfügung stehen?

Blumencron: Sicher geht die Arbeitsteilung ein bisschen in die Richtung, und ein Magazin ist nun mal per definitionem schon analytischer als ein Onlinedienst. Nichtsdestotrotz - Nachrichten kriegen Sie heute an allen Ecken und Enden. Die reine Nachricht alleine hilft auch online dem Leser nicht.

Ein neuer Vorschlag in der Gesundheitsreform-Diskussion rein nachrichtlich aufgeschrieben erscheint dem Leser total abstrakt, Sie müssen ihm erklären, was dieser Vorschlag bedeutet, wo die Veränderung liegt, wo der Fortschritt liegt, der mögliche Fortschritt liegt, oder wo die Nachteile liegen. Das heißt, die Nachricht alleine hilft nur in seltenen Fällen, wenn sie relativ klar ist.

Aber je abstrakter die Themen sind, je politischer es wird, je wirtschaftlicher es wird, je mehr es in die Spezialgebiete geht, um so mehr müssen Sie erklären und erläutern, und das müssen die Onlinedienste schon tun, denn der Leser erwartet es, und wenn sie das nicht leisten, dann laufen sie ihnen zu Recht weg.

König: Bill Gates hat mal den Beginn des digitalen Lifestyles für 2006 prognostiziert. Heute sagen Marktforscher immer wieder, der digitale Quantensprung stehe unmittelbar bevor, also, die Verschmelzung von Fernsehen, Telefon und schnellem Internet. Wie weit sehen Sie diese Entwicklung gediehen?

Blumencron: Ja, das sind so diese wunderbaren Hype-Themen, die alle paar Jahre durch unseren Bereich getrieben werden.

König: Auch jetzt auf der IFA wird es wiederkommen.

Blumencron: Natürlich, natürlich. Sicherlich haben wir eine andere Situation als 1999, wo das Thema schon mal sehr hoch war, die Breitband-Penetration, also die Versorgung der Menschen da draußen mit Breitbandanschlüssen, sehr viel höher, als vor sieben, acht Jahren. Die Möglichkeit, Videos und multimediale Elemente, Audio, zu hören, zu sehen, zu konsumieren, sind sehr viel einfacher. Insofern nähern sich die Medien. Nichtsdestotrotz gibt es völlig unterschiedliche Konsumsituationen. Sie sitzen vor einem PC ganz anders als vor einem Fernsehgerät, was drei Meter von Ihnen weg irgendwo in die Wand eingelassen ist, in Ihre Schrankwand, wo auch immer.

König: Ja, das soll ja die Fernbedienung richten.

Blumencron: Das soll die Fernbedienung ... Aber nichtsdestotrotz, das ist die typische Sofa-Situation, Sie liegen zurück, die Tüte Chips in der Hand. So sitzen Sie selten am PC, sonst haben Sie relativ schnell ein Problem mit Ihrer Tastatur, wenn es da so viel reinkrümelt.

Sie gehen mit einer Webseite ganz anders um. Es sind unterschiedliche Situationen. Auch mit einem Handy gehen Sie anders um. Das heißt, ja, die Medien rücken enger zusammen, auf unserer Webseite gibt es jede Menge Videos mittlerweile, andere Webseiten folgen, das Thema Video ist ganz groß im Netz. Nichtsdestotrotz ist noch völlig andere Konsumgewohnheiten in unterschiedlichen Lebenssituationen.

König: Lassen Sie uns zum Schluss, Herr von Blumencron, noch mal das Thema Medienaufsicht ansprechen. Ich habe heute mich mal detailliert schlau gemacht. Wir haben 15 Landesmedienanstalten, wir haben die KEK, die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich, wir haben Rundfunk und Fernsehräte, das Kartellamt, das Wirtschaftsministerium, die Bundesnetzagentur. Sie müssen sich mit Watch-Bloggern, den Medienkritikern im Netz, herumschlagen. Wird all das der Realität gerecht? Wäre es nicht Zeit für eine zentralisierte Aufsicht für Rundfunk, Telefonie und dann auch Internet, was heute immer noch so ein bisschen als, na ja, nicht rechtsfreier Raum gilt, aber doch, sagen wir mal, nicht klar definierter Rechtsraum?

Blumencron: Warum wollen Sie eine zentralisierte Aufsicht fürs Internet? Wollen Sie jeden Blogger kontrollieren? Das Internet ist quasi eine anarchische Struktur. Tausende, Zehntausende, Millionen haben die Möglichkeit und nutzen auch die Möglichkeit, im Netz zu publizieren. Viel Vergnügen dabei, die alle zu kontrollieren, nicht nur viel Vergnügen, sondern das ist dann wirklich Big Brother. Soll jeder Blogger, der einen Videoblog macht, in Zukunft eine Sendelizenz benötigen? Das wäre doch absoluter Wahnsinn!

Im Printbereich gibt es eine sehr gute Selbstregulierung, und etwas Ähnliches muss sich auch im Onlinebereich entwickeln. Wir haben Strafrecht mit auch dezidierten Regeln für Medien. Sagen wir mal so: Missbrauch gibt es überall, schwarze Schafe finden Sie überall, und Sie finden überall Lücken für Menschen, die schlimmste Inhalte irgendwie publizieren. Sie müssen die finden, Sie können sie finden, und die Ermittlungsbehörden kümmern sich natürlich glücklicherweise mittlerweile auch um das Feld Online sehr intensiv.

Es ist nicht so, dass uns der Onlinebereich völlig aus dem Ruder läuft und das Einzige, auf das wir jetzt warten, noch eine staatliche Regulierungsbehörde ist, die endlich Ordnung in dieses Chaos bringt. Ich glaube, das wäre eine der, ja, gruseligsten Vorstellungen.

König: Vielen Dank! Heute wird in Berlin die Internationale Funkausstellung eröffnet. Wie das Internet den Journalismus verändert, ein Gespräch mit Matthias Müller von Blumencron, dem Chefredakteur von "Spiegel Online".