"Wörterbuch der Unruhe"

Coolness als "Alltagswaffe"

 Ein Mann mit Kopfhörer steht am Fenster.
Stadtbewohner haben den Begriff Coolness erfunden, sagt der Philosoph Ralf Konersmann. © imago
Philosoph Ralf Konersmann im Gespräch mit Dieter Kassel · 27.04.2017
Unruhe kennt wohl jeder. Doch wie facettenreich dieses Lebensgefühl tatsächlich ist, hat der Philosoph Ralf Konersmann untersucht, in seinen "Wörterbuch der Unruhe". Ein Eintrag darin: Coolness.
Im Sommer 2015 veröffentlichte der Direktor des Philosophischen Seminars der Universität Kiel, Ralf Konersmann, seine Anthologie "Die Unruhe der Welt", ein anspruchsvolles Buch, das viele Leser fand. Für Ralf Konersmann war das Thema damit aber nicht abgeschlossen. Deshalb erscheint jetzt sein "Wörterbuch der Unruhe".
Nach der Behandlung der Frage, wie wir in die Unruhe hineingekommen sind, sei für ihn die Frage fällig gewesen, worin sie sich genau zeigt, so Konersmann.
"An welchen Orten, in welchen Arenen, auf welchen Schauplätzen lassen wir uns im Einzelnen mit welchen Methoden überreden, in die Unruhe einzuwilligen - und da entsteht ein durchaus differenziertes Bild."
Auch die Coolness hat einen Eintrag in seinem Wörterbuch bekommen, erzählt der Philosoph. Begriffe wie diese seien immer als Reaktion zu verstehen.
"Die Unruhe ist eigentlich das Primäre und dann imaginieren wir Räume, Gegenräume geradezu. Und dazu gehört auch die Coolness, die sozusagen eine Alltagswaffe ist, um sich den Turbulenzen und dem Taumel der Unruhe zu entziehen."
Die Coolness, so Konersmann, sei eigentlich eine Erfindung aus der Großstadt. Ihre Bewohner hätten sie ausgebildet, "um den permanenten Anreizen, denen sie ausgesetzt sind etwas entgegenzusetzen, sie zu filtern, die Reize abzudämmen und um vorbeizugehen an dem, was sie ständig herausfordert".

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Im Sommer 2015 veröffentlichte der Direktor des Philosophischen Seminars der Universität Kiel, Ralf Konersmann, seine Anthologie "Die Unruhe der Welt". Eigentlich schreckt ja schon der Begriff "Anthologie" viele Leser ab, und es ist in der Tat ein inhaltlich und sprachlich nicht ganz unkompliziertes Buch, und doch fand es extrem viele Leser. Man darf wohl unterstellen, das liegt auch schon an diesem Thema. Unruhe – ein Thema, dass für Ralf Konersmann auch noch nicht abgeschlossen ist, denn jetzt erscheint sein "Wörterbuch der Unruhe". Schönen guten Morgen, Professor Konersmann!
Ralf Konersmann: Guten Morgen!
Kassel: Warum lässt Sie, um mal einen einzigen Kalauer zu wagen, warum lässt Sie die Unruhe nicht in Ruhe?
Konersmann: Nach der historischen Rekonstruktion der Unruhe, das heißt, der Behandlung der Frage, wie wir in die Unruhe hineingekommen sind und uns geradezu eingerichtet haben in der Unruhe, war die Frage fällig, worin zeigt sich die Unruhe und an welchen Orten, in welchen Arenen, auf welchen Schauplätzen lassen wir uns im Einzelnen mit welchen Methoden überreden, in die Unruhe einzuwilligen. Und da entsteht ein durchaus differenziertes Bild, und das Bild möchte das Wörterbuch einfangen.
Kassel: Einer der Einträge in diesem Wörterbuch ist der Eintrag zum Begriff "Fließen". Das hat mich ein bisschen nachdenklich gemacht, denn wenn etwas im Fluss ist, dann ist es natürlich in Bewegung. Aber ist denn Bewegung gleich Unruhe?
Konersmann: Bewegung ist nicht gleich Unruhe, weil Bewegung heute wahrgenommen wird, mit Fortschreiten der Physik und so weiter, als ein halbwegs geordnetes Geschehen, das man zumindest von außen beschreiben kann. Andererseits assoziieren wir das Fließen mit Strudeln, mit Gurgeln und mit allen möglichen chaotischen Fließbewegungen. Das heißt, von außen betrachtet, wahrgenommen als ein Gesamtphänomen namens Bewegung haben wir den Eindruck, dass es etwas Geordnetes oder etwas zumindest Regelförmiges ist. Und wenn wir dann näher herantreten, wird das Ganze doch chaotisch, besonders wenn wir hineingerissen sind in diesen Strom. Und das Fließen ist eine Metapher, die vor allen Dingen das Zeitgeschehen beschreibt. Und wenn man erst einmal so weit ist, sich als Teil dieses Geschehens zu bestimmen, dann entsteht ein Gefühl der Unsicherheit, weil man sozusagen die Ufer hinter sich gelassen hat. Nietzsche wird dann von den Schiffen sprechen, die auf dem offenen Meer sind, also diese Uferlosigkeit betonen. Und ich glaube, das ist auch das Lebensgefühl vieler in der Moderne, dass es keine sicheren Häfen und keine sicheren Ufer mehr gibt. In diesem Zusammenhang ist auch das Fließen eine Art, Unruhe zu denken beziehungsweise, wenn wir die These aufstellen, dass alles fließt, alles in Bewegung ist, Fluidität, Liquidität, das sind ja auch zeitgenössische Weltbeschreibungen, dann willigen wir mehr oder weniger, je nachdem, wie wir die Metapher verwenden, dann eben auch in die Unruhe ein.
Kassel: Es finden sich mehrere Begriffe, mehrere Stichworte in ihrem "Wörterbuch der Unruhe", die zunächst mal das Gegenteil davon meinen, zum Beispiel "Ruhe" schlicht und ergreifend, "Trägheit" kommt vor, zum Beispiel auch "Coolness". Und gerade bei Coolness, Sie beschreiben das ja auch, das ist ja so diese Einstellung, die Unruhe ablehnt, die sagt, ich bin immer ruhig, mich bringt hier nichts aus dem Häuschen, ich weiß es einfach besser. Aber ist nicht gerade Coolness auch ein Beispiel dafür, dass es die ja eigentlich als Begriff, als Phänomen, als Haltung nur gibt, weil es halt auch die Unruhe gibt?
Konersmann: Ja. Überhaupt, das gilt übrigens generell für all diese Begriffe, die versuchen, der Unruhe sozusagen einen Gegenpart gegenüberzustellen. Die sind immer zugleich als Reaktionen zu verstehen. Das wäre ein Ertrag meines ersten Buches, zu sagen, die Unruhe ist eigentlich das Primäre, und dann imaginieren wir Räume der Ruhe, Gegenräume geradezu, und dazu gehört auch die Coolness, die sozusagen eine Alltagswaffe ist, um sich den Turbulenzen und dem Taumel der Unruhe zu entziehen. Die Coolness ist eigentlich ein Großstadtphänomen und wurde ausgebildet von den Stadtbewohnern, um den permanenten Anreizen, denen sie ausgesetzt sind, etwas entgegenzusetzen, es halt zu filtern, die Reize abzudämmen und sozusagen daran vorbei zu gehen, an dem, was sie ständig herausfordert. Der ältere Begriff lautet "Blasiertheit", und inzwischen, im 20. Jahrhundert, in Filmen und so weiter, wird diese Einstellung der Coolness kultiviert, die ursprünglich auch eine zweite Wurzel hat in Bewegungen besonders der Schwarzen in Nordamerika, die sozusagen eine eigene Kultur auf der Basis der Coolness erstellen wollten.
Kassel: Gab es eigentlich in der frühen Phase der Arbeit an diesem Wörterbuch, gab es Begriffe, die Sie eigentlich aufzunehmen planten und die dann doch nicht reinpassten, und umgekehrt Begriffe, wo Sie erst relativ spät darauf gekommen sind, ja, das gehört eigentlich rein?
Konersmann: Sicher, ganz zentral wäre eben "Bewegung", wäre "Arbeit". Das sind sehr komplexe und intensiv erforschte Begriffe, die ein Ausmaß und ein Gewicht haben, das deren Behandlung so ein bisschen die Architektur dieser historischen Rekonstruktion verschoben hätte. Deswegen auch ist dieses Wörterbuch fällig. Das hole ich jetzt eben sozusagen nach. Und erst in der Rekonstruktion der Unruhe und in diesen Ausfädelungen ist mir dann aufgefallen, dass man eben auch in ganz anderen Bereichen, wo es nicht so augenfällig ist, über die Unruhe sprechen kann. Wenn wir ein Gegenphänomen nehmen, also etwa das Sitzen, wo man dann eben zeigen kann, wie die Angriffe auf das Sitzen von der Unruhekultur forciert worden sind. Oder auch solche Phänomene wie der Essay, eben ein fließendes Schreiben, auch ein subjektives Schreiben, ein elegantes Schreiben, das aber andererseits mit dem Anspruch auf Form der reinen Unruhe wieder etwas entgegensetzt.
Kassel: Ralf Konersmann, Direktor des Philosophischen Seminars der Universität Kiel und Autor des "Wörterbuchs der Unruhe", das jetzt im S. Fischer-Verlag erschienen ist. Herr Konersmann, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen für den heutigen Tag exakt das Ausmaß an Ruhe und Unruhe, das Sie sich wünschen!
Konersmann: Ganz herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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