"Wo die Barbaren leben" am Theater Heidelberg

Im Dickicht des Fremden

Ein Regenwald in Costa Rica
In "Wo die Barbaren leben" geht es unter anderem um den Kolonialismus in Südamerika und die indigene Bevölkerung. © picture-alliance/dpa
Von Michael Laages · 16.09.2017
Die deutschsprachige Erstaufführung "Wo die Barbaren leben" des Chilenen Pablo Manzi hat das Zeug zum Stück der Stunde. Es geht um das Entstehen von Feindbildern, ungewöhnlich ist der Ort der Inszenierung: Die Zuschauer sitzen im Tropenhaus des botanischen Gartens in Heidelberg.
Alles hier ist so grün: Blätter, Ranken, Sträucher, Bäume; und von all dem gibt’s hier derart viel, dass selbst tagsüber kaum Licht herein fällt ins Tropenhaus des Botanischen Gartens auf dem Gelände der Heidelberger Universität. Und durch das überwältigende, ja erdrückende Grün der Tropen, durch diesen Urwalddschungel im Miniaturformat führen ein paar Wege. Aufgereiht am mittleren stehen zweimal 25 Hocker: das ist hier "das Theater".
"Also das Stück findet nicht auf einer Bühne statt, und es gibt auch nicht eine Blickrichtung – es gibt viele verschiedene. Und deswegen eine Bitte: Achten Sie auf die Luftballons, die oben schweben, und halten Sie sie im Blick, damit Sie das Geschehen verfolgen können; sonst wird das ein Hörspiel sein und kein Theaterstück."
Die drei Ballons, auf die Regie-Assistentin am Eingang hingewiesen hat, sind riesengroß, je eineinhalb Meter im Durchmesser; mit Helium gefüllt, hängen sie mitten im Grün über uns, quasi in den Pflanzen. Auf sie projiziert werden die Köpfe dreier Männer, später auch einer Frau, die die drei besucht und aus ihren redseligen Debatten schreckt. Das meiste an diesem Theaterabend ist also virtuell, aber immerhin haben uns zu Beginn zwei Ensemblemitglieder "live" in Empfang genommen, auf deutsch und auf spanisch.
"A donde me vanam mandar? Nadje sabe o que va passar, nadje sabe quienes vivem em nos bosques." // "Wohin wollen Sie mich schicken? Niemand weiß, wer draußen in den Wäldern lebt."

Die Männer sprechen von Ballons hinab

Einen aufregenderen Spiel-Raum als diesen hat es sicher sehr sehr lange nicht mehr gegeben. Und Regisseurin Luise Vogt hatte ihn sich sogar noch ein bisschen präsenter vorgestellt für die chilenische Fabel von Pablo Manzi.
"Ich wollte eigentlich, dass die Pflanzen das Thema verhandeln; also dass das wie so Baumwesen werden."
Aus der Höhe der Bäume herab sprechen nun überdimensional die Männer von den Ballons; das Schauspiel-Paar vom Beginn bleibt uns real erhalten mit Kommentaren, bevor auch diese beiden in den Ballons "verschwinden", sozusagen – sie stehen dann, wie die drei Männer, an gut im grünen Raum versteckten Pulten und spielen in die Video-Kamera.
Dieses tropisch-virtuelle Arrangement ist ziemlich furios und gewagt; es gibt Manzis für Heidelberg übersetztem Stück ein Maß an Abstraktion, das nicht zwingend in ihm steckt. "Wo die Barbaren leben" ist ein feingestricktes Kammerspiel mit historischen Diskursen – drei Cousins treffen einander nach langer Zeit der Trennung; einer von ihnen arbeitet für eine Nicht-Regierungs-Organisation an der Trauma-Behandlung von Gewalttätern; mit den Opfern geht er gelegentlich weniger sorgsam um – eine junge Frau, neonazistischer Umtriebe verdächtigt, ist umgekommen in seiner Obhut. Eine ihrer Freundinnen bedroht daraufhin die Familie der drei gutbürgerlichen Cousins. Auf fatale Weise stirbt sogar der Hund des Hausherrn, der sinnigerweise "Christoph Columbus" heißt – einer der Cousins hat ihn umgebracht und an den Bretterzaun genagelt, vorsichtshalber sozusagen, bevor die wirklichen "Barbaren" kommen.
Wer oder was sind diese "Barbaren"? Immer die Anderen, immer die Fremden, sagt das Stück – und zitiert die alten Griechen:
"Barbaren wurden zunächst all jene genannt, die der griechischen Sprache nicht mächtig waren. Die Unverständlichkeit der fremden Sprache übersetzten sie lautmalerisch mit ‚Bar-Bar‘."
Aus Griechenland kommt dann auch die junge Frau, die das Milieu der Cousins durcheinander wirbelt - Regisseurin Voigt sagt:
"Also wir haben ein chilenisches Stück, innerhalb dessen eine Figur diejenige ist, die aus Europa kommt und auch das europäische Vermächtnis mitbringt - und im Ausland nach den Barbaren sucht; sie aber nicht finden kann."

Die Barbaren sind wir selbst

Und der Heidelberger Chefdramaturg Jürgen Popig ergänzt:
"Es geht um Fremdenfeindlichkeit in Chile; dort geht’s vor allem um die Peruaner und die Indios. Man hat ne Gruppe, die sich bedroht fühlen von außen, wo sich dann aber heraus stellt, dass es diese vermeintliche Bedrohung von außen gar nicht gibt, sondern dass sie alle selber dafür verantwortlich sind. Das schien uns doch ne spannende Konstruktion zu sein und durchaus übertragbar auf hiesige Verhältnisse."
Die Feinde, die Barbaren, die wir lauthals und voller Angst beschwören, sind wir wohl oft nur selber, oder sie stecken jedenfalls auch in uns – Pablo Manzis Theaterskizze, in Chile entworfen, hat das Zeug zum Zeit-Kommentar auch für die politische Gegenwart der Alten Welt – nicht nur im Heidelberger Tropenhaus.
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