WM-Auftakt

Stellvertreterkrieg im Fußball

Der Innenraum des Olympiastadion Luschniki in Moskau. Die Stadt ist einer der Spielorte für die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland.
Zwei Rohstoff-Supermächte werden sich beim Eröffnungsspiel der Fußball-WM im Moskauer Luschniki-Stadion begegnen. © picture alliance / dpa / Marius Becker
Von Timm Beichelt · 14.06.2018
Russland gegen Saudi Arabien: Das Eröffnungsspiel der Fußball-WM ist zumindest auf den ersten Blick aus sportlicher Sicht keine hochrangige Partie, meint Politikwissenschaftler Timm Beichelt. Politisch komme allerdings auf dem Platz einiges zusammen.
Was bekommen wir vorgeführt, wenn heute um 19 Uhr Ortszeit in Moskau Russland gegen Saudi-Arabien spielt? Sicherlich steht mehr auf dem Spiel als ein Kräftemessen von Männern in kurzen Hosen. Denn sonst wäre kaum zu erklären, dass mehr als eine Milliarde Menschen dabei zusehen werden. Eine These lautet: Im Spiel verarbeiten Menschen und ganze Gesellschaften Konflikte, die dann nicht mehr real ausgetragen werden müssen. Wenn dies so ist, so formulierte es der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga vor vielen Jahrzehnten, können profane Spiele auch Auskunft geben über komplizierte Konfliktlagen; diese werden im Spiel gespiegelt. Fußball ist nicht nur die schönste Nebensache der Welt, sondern auch ein "ernstes Spiel", wie es zwei Soziologen formuliert haben.
Einerseits geht es also um Sport, die aktuelle Nummer 67 der sogenannten FIFA/Coca-Cola-Weltrangliste spielt gegen die Nummer 70. Andererseits treffen Konfliktparteien aus der realen Welt aufeinander. Die Nummer 1 der Weltrangliste beim Ölverkauf tritt gegen die Nummer 2 an, der saudische Wahhabismus gilt als Inspirator des Terrorismus in Dagestan und Tschetschenien, und in Syrien bombardiert die russische Luftwaffe Milizen, die direkt von Saudi-Arabien finanziert werden. Es hat wahrlich schon entspanntere WM-Eröffnungsspiele gegeben.

Fußball als nationales Projekt

Was für Mannschaften treffen aufeinander? Im russischen Kader stehen 21 Spieler aus der einheimischen Premjer Liga. Mit Ersatztorwart Wladimir Gabulow und Mittelfeldspieler Denis Tscheryschew hat man lediglich zwei sogenannte Legionäre aufgenommen. Saudi-Arabien hat im Januar dieses Jahres drei seiner Spieler für einige Monate als Praktikanten nach Spanien geschickt; einer von ihnen saß beim FC Villareal in Spanien neben Tscheryschew auf der Ersatzbank. Ohne diese merkwürdige Aktion bestünde der komplette Kader Saudi-Arabiens aus Spielern der gewiss nicht hochklassigen Abdul Latif Jameel League, der höchsten Liga Saudi-Arabiens.
Einige Kommentatoren haben die Isolationsstrategie, die im internationalen Fußball sehr unüblich ist, mit mangelnder sportlicher Konkurrenzfähigkeit erklärt. Aber die Zusammensetzung der Kader sendet auch ein politisches Signal. Fußball ist in den beiden Ländern ein nationales Projekt, dazu angetan, der unübersichtlichen Globalisierung ein bereinigtes Weltbild dahingehend entgegenzusetzen, wer zu den höchsten Repräsentanten im wichtigsten Sport der Welt dazugehören darf – und wer nicht.

Ziel: Reputation zurückgewinnen

Auffällig ist allerdings, dass die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln im Fußball in Kontrast steht zu den Mitteln, mit denen die beiden Rohstoff-Supermächte außenpolitisch einsetzen. In der Ostukraine stehen mehr Legionäre als in der russischen Mannschaft. Und die Zahl der jungen Saudis, die im Jemen, im Irak und in Syrien die sunnitische Sache vertreten, ist höher als die der Fußballpraktikanten in der spanischen Liga. Im Kontrast zum Spielfeld des Fußballs müssen sich die Spielführer der beiden Länder, Präsident Wladimir Putin und Kronprinz Mohammed bin Salman, auf dem Schlachtfeld der realen Welt also von Leuten helfen lassen, die nicht direkt zum eigenen Team gehören.
Wenn wir an die Söldner in der Ostukraine, die Eiferer in Tschetschenien und die brutalen Milizen in Syrien denken, ahnen wir, dass die Kaderzusammensetzung nicht immer optimal gelaufen ist. Zwar haben sich einige der geopolitischen Ziele Russlands und Saudi-Arabiens kurzfristig erreichen lassen. Auf der Weltrangliste der ehrenwerten Staatsmänner ist man aber weit zurückgefallen und muss nun mit teuren Prestigeprojekten versuchen, Reputation zurückzugewinnen.
Die Bühne der FIFA eignet sich hierzu wie kaum eine andere. Höhere Werte werden hier traditionell mit höheren Geldeinnahmen gleichgesetzt und sichern einen Platz an der Seite des Sonnenkönigs Gianni Infantino, der sich beim Eröffnungsspiel vielleicht zwischen den politischen Vertretern beider Staaten platzieren wird – sicher ist sicher. Vereint werden die Strategen auf ein Ersatzspielfeld der Weltpolitik schauen und die ernsteste Nebensache verfolgen.

Timm Beichelt ist Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Europäische Union, Demokratie in Osteuropa, Kultur und Politik, sowie der Rechtsradikalismus in Osteuropa. Im Mai 2018 erschien sein jüngstes Buch "Ersatzspielfelder - Zum Verhältnis von Fußball und Macht" im Suhrkamp Verlag.

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