Wirtschaftskrise in Venezuela

Hungernde finden Hilfe im benachbarten Kolumbien

Zehntausende Venezolaner kommen jeden Tag über die Brücke ins kolumbianische Cúcuta.
Zehntausende Venezolaner kommen jeden Tag über die Brücke ins kolumbianische Cúcuta. © Deutschlandradio / Burkhard Birke
Von Burkhard Birke · 01.07.2018
In Venezuela kämpfen viele Menschen angesichts der verheerenden Wirtschaftskrise ums Überleben. Hilfe finden sie in der kolumbianischen Grenzregion, unter anderem bei den katholischen Bistümern. Doch es droht eine soziale Zeitbombe.
Der Strom aus buntgekleideten und schwer beladenen Menschen will einfach nicht abreißen: Zigtausende überqueren jeden Tag die Brücke Simon Bolivar zu Fuß. Sie führt über den Grenzfluss Táchira und verbindet das venezolanische San Antonio mit dem kolumbianischen Cúcuta. Seit September 2015 ist die Brücke für den Autoverkehr gesperrt – eine Maßnahme, um dem Benzinschmuggel einen Riegel vorzuschieben.
Denn Benzin wird in Venezuela praktisch verschenkt. Für den Gegenwert eines Dollars auf dem Schwarzmarkt bekommt man nicht einmal mehr eine halbe Kiste Eier, könnte jedoch drei Millionen Liter Normalbenzin kaufen. In Kolumbien dagegen bekommt man höchsten eineinhalb Liter dafür. Benzin ist aber das einzige Billige in Venezuela: Die Hyperinflation treibt die Menschen über die Grenze und sei es nur für eine warme Mahlzeit.

Mehr als 2000 Venezolaner werden jeden Tag verpflegt

Aus San Antonio kommt sie jeden Tag, berichtet Lucia. Dort gebe es praktisch nichts mehr oder nur zu horrenden Preisen. Lucia treffe ich etwa einen Kilometer vom Grenzübergang entfernt in der Casa de Paso Divina Providencia – dem Haus der Diözese Cúcuta für Durchgangsreisende mit dem bezeichnenden Namen "göttliche Vorsehung".
"Wir verpflegen etwa 2000 bis 2100 Venezolaner jeden Tag. Jetzt ist es 10:20 morgens in Kolumbien, aber in Venezuela ist es schon 11:20. Wir servieren früh, damit die Menschen es noch zurück schaffen. Viele haben drei, vier Stunden Weg hinter sich. Hier passen 750 Personen auf einmal rein – deshalb servieren wir in drei Etappen", erläutert Pater José David.
Gemeinsam mit 400 freiwilligen Helfern organisiert er die Essenausgabe. Heute gibt es Chorizo - eine Art Würstchen -, Reis und Bohnen, dazu Erfrischungsgetränke. Der Andrang ist groß, deshalb werden Zugangsmarken verteilt. Nur wer sich angemeldet hat, darf sich anstellen und seine Mahlzeit in Empfang nehmen.
Pater José in der Essensausgabe für Flüchtlinge aus Venezuela.
Pater José in der Essensausgabe für Flüchtlinge aus Venezuela.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
Im weitläufigen Hof eines älteren Gebäudes sind lange Tische und Bierbänke sowie einige kleine runde Tische aufgebaut, an denen Männer, Frauen und Kinder Platz nehmen.
Ein kleines Mädchen lächelt mich an, will unbedingt, dass ich sie interviewe. Marie Angel heißt sie, erfahre ich, sie ist fünf Jahre alt aus Trujillo und mit vier Geschwistern und ihrer Mutter in Cúcuta.
Seit zwei Monaten bereits käme sie mit ihren fünf Kindern hierher, erzählt Marie Angels Mutter, die versucht, sich mit Gelegenheitsjobs und Straßenverkauf durchzuschlagen. Gott sei Dank bekämen sie alle hier seitdem täglich Frühstück, Mittags- und Abendessen. Ohne diese Hilfe würde diese Familie womöglich verhungern. Mit drei Essensschichten pro Mahlzeit stoßen die Helfer jedoch an ihr Limit. Der Bischof von Cúcuta, Victor Manuel Ochoa Cadavid:
"Die Lage ist mittlerweile so dramatisch, dass wir gar nicht mehr genügend Essen bereitstellen können. Wir verteilen 8000 Essen pro Tag. Eigentlich bräuchten wir industrielle Küchen oder Militärküchen zum Kochen. Deshalb haben wir das Angebot reduziert. Jetzt gibt es zum Beispiel Nudeln und Thunfisch oder Sardinen. Die Not ist extrem. Das ist ein riesiges menschliches Drama: Kinder und Schwangere können wir doch nicht hungern oder gehen lassen, ohne dass sie eine Hand streichelt, sie ein Wort des Trostes und einen Teller heiße Suppe bekommen."

Eine halbe Million Rückkehrer aus dem einstigen Boom-Land

Ältere Menschen, schwangere Frauen und Kinder werden bevorzugt berücksichtigt. Fast täglich wächst jedoch die Not. Von den bis zu 50.000 Menschen, die pro Tag die Grenze überqueren, bleiben immer mehr in Kolumbien.
Allein im Monat Mai registrierten sich 200.000 Personen ohne Reisepass bei den kolumbianischen Behörden in der Absicht, ihren Status in Kolumbien zu legalisieren. Wer einen Pass besitzt, reist meist weiter in andere Länder wie Ecuador, Peru oder Chile.
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Marie Angel mit ihren Geschwistern in der Essensausgabe von Cúcuta© Deutschlandradio / Burkhard Birke
Rund eine Million Venezolaner lebt laut offiziellen Angaben bereits in Kolumbien, rund die Hälfte von ihnen sind Rückkehrer: Kolumbianer, die als Gastarbeiter und wegen des Bürgerkrieges ins einstige Boom-Land Venezuela ausgewandert waren.
Allein in der Grenzstadt Cúcuta haben sich mittlerweile 300.000 Venezolaner angesiedelt. Bischof Ochoa Cadavid:
"Die Prostitution und Diebstähle haben in Cúcuta zugenommen. Es gibt auch immer mehr Menschen, die versuchen, irgendwie an ein paar kolumbianische Pesos zu kommen, die in venezolanischer Währung astronomische Summen ergeben. Die Diözese Cúcuta hat versucht, sich um diese Menschen zu kümmern – auch mit Hilfe von Adveniat, Caritas und Spenden hier in Cúcuta. Seit Beginn der Essensausgabe vor einem Jahr haben wir bereits eine halbe Million warme Mahlzeiten und viele Medikamente verteilt. Außerdem werden Menschen mit unserer Hilfe medizinisch in den Krankenhäusern betreut."
Mit knapp 100.000 Euro hat Adveniat die Arbeit der Kirche in Cúcuta, aber auch in Riohacha, dem zweiten wichtigen Grenzübergang im Norden unterstützt. Angesichts der täglich wachsenden Flüchtlingsströme wird dringend mehr internationale Hilfe benötigt: Auch das UN Flüchtlingshilfswerk erreicht mit seinem 46-Millionen-Dollar-Budget gerade einmal ein Fünftel der Betroffenen.

"Kolumbien ist ein armes Land"

Dabei geht es nicht nur um die Ernährung der Menschen. Dringend gebraucht wären Arbeitsplätze, medizinische Versorgung und Zugang zu Bildung. Venezolaner ohne legalen Aufenthaltsstatus haben weder ein Anrecht auf medizinische Betreuung noch auf Bildung – das heißt, die Einwandererkinder gehen meist nicht zur Schule.
Tagelöhner, die für die Hälfte des üblichen Lohns arbeiten, Frauen, die sich für fünf Dollar prostituieren - nicht nur in Cúcuta droht das Flüchtlingsproblem zur sozialen Zeitbombe zu werden. Zwar gibt es keine sprachlichen und kulturellen Integrationsprobleme, aber:
"Kolumbien ist kein reiches, sondern ein armes Land. Ich weiß auch nicht, was wir in der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zu suchen haben. Das wird uns zum Nachteil gereichen. Es wäre freilich sehr gut, wenn wir unsere Großzügigkeit gegenüber den Venezolanern aufrechterhalten könnten - auch aus Dankbarkeit für ihre frühere Hilfsbereitschaft."
Das hofft Pater Dario Echeverri von der Kommission für Frieden und Versöhnung der kolumbianischen Bischofskonferenz. Mit einem Zustrom von 200.000 Venezolanern pro Monat dürfte seine Hoffnung auf eine harte Probe gestellt werden.
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