"Wir selbst sind eine Konstruktion des Gehirns"

Onur Güntürkün im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 19.09.2013
Sind es die Gene oder ist es die Umwelt, die uns zu dem machen, was wir sind? Die Frage ist obsolet, sagt der Biopsychologe Onur Güntürkün. Die Identitäsbildung sei viel komplexer: "Unsere Umwelt, unsere Kultur, unser Gehirn, unsere Gene, die Gesellschaft und wir selbst, wir alle beeinflussen uns ununterbrochen gegenseitig."
Klaus Pokatzky: Warum sind wir so, wie wir sind? Warum ist der eine eine Kämpfernatur und der andere ein Angsthase? Machen das die Gene, die von unseren Vorfahren in unserem Körper stecken, oder macht das die Umwelt, in der wir aufwachsen? Sind wir schlau, weil die Oma schon ein Intelligenzbolzen war oder weil wir schon von Kindesbeinen an zum Denken angeregt wurden? Genforscher verweisen gerne auf die Allmacht der Biologie, Sozialwissenschaftler auf die prägenden Einflüsse der Kultur. Oder gibt es da eine Wechselwirkung? Onur Güntürkün ist Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum und nun am Telefon – guten Tag!

Onur Güntürkün: Guten Tag!

Pokatzky: Herr Güntürkün, die Leopoldina in Halle wird nun die Frage stellen: Wie wurde ich zu der Person, die ich bin? Sie haben die Tagung vorbereitet – beginnen wir mit einem Experiment, und zwar mit einem Experiment, das Sie selber gemacht haben: Sie haben einer Frau einreden können, dass ein dritter Arm aus Plastik, der vor ihr auf einem Tisch liegt, zum Körper dieser Frau gehört. Wie haben Sie das gemacht?

Güntürkün: Na, durch Einreden nicht, aber durch eine Art Mechanismus, den das Gehirn benutzt. Für das Gehirn ist es so, dass wenn zwei Reize gleichzeitig ankommen, dass sie offensichtlich zusammengehören. Diese Frau hat also auf einen Plastikarm vor sich geguckt, und ihren eigenen Arm konnte sie nicht mehr sehen, weil der einfach hinter so einem kleinen Tuch versteckt war, und ihr eigener Arm und der Plastikarm vor ihr wurden zeitgleich gestreichelt, an der gleichen Stelle. Und wenn man das so eine Minute macht, verschmilzt die Gummihand quasi im Gehirn mit dem eigenen Körper.

Und das ist ein ganz einfaches Verfahren, aber es zeigt, dass selbst so etwas wie das Körpergefühl, das wir besitzen, ununterbrochen neu vom Gehirn aufgebaut, konstruiert wird und von uns, wenn wir einmal die Gehirnmechanismen verstanden haben, auch verändert werden kann.

Pokatzky: "Arm anhexen – welche Illusionen schafft das Gehirn?", das ist die Überschrift dieses Experiments. Das Video dazu kann angesehen werden auf der Homepage der Leopoldina. Wie genau schafft das Gehirn jetzt solche Illusionen, was läuft da in unserem Gehirn ganz genau ab?

""Wie schafft es das Gehirn, mich jeden Augenblick neu zu erfinden?""

Güntürkün: Was dort ganz genau abläuft, ist Folgendes: Ununterbrochen kommt jetzt ein Strom von Informationen über das Auge: Ich sehe die Gummihand, ich sehe, wie dort der Zeigefinger gestreichelt wird und ich spüre das an meinem eigenen Zeigefinger. Diese beiden Eingänge werden zusammengebunden, und es kann nur eine Lösung für das Gehirn geben: Dieser Gummifinger ist offensichtlich mein Finger. Es geht gar nicht anders. Wir selbst sind eine Konstruktion des Gehirns, die ununterbrochen verändert wird. Und deshalb ist die Frage, wie wurde ich zu der Person, die ich bin, immer auch eine Frage, wie schafft es das Gehirn, mich jeden Augenblick neu zu erfinden.

Pokatzky: Aber das bietet doch auch Raum für unglaubliche Manipulationen am Menschen und in seinem Gehirn.

Güntürkün: Natürlich. Jede wissenschaftliche Erkenntnis kann Böses bedeuten, aber es kann eben immer auch Gutes bedeuten. Es gibt sehr viele Menschen, die unter schrecklichen Phantomarmschmerzen leiden, Schmerzen in einer Hand, die sie schon 30 Jahre nicht mehr besitzen, die unheilbar sind, einfach deshalb, weil man nichts machen kann für etwas, das ein Phantom ist. Wenn wir es schaffen können, die Repräsentation im Gehirn dieser Menschen zu verändern, können wir diesen Menschen helfen.

Wir können auch umgekehrt eine elektronische Hand, die ihnen dann auf den Stumpf aufgesetzt wird, inkorporieren, das heißt zum Teil ihres wirklich eigenen Körpers werden lassen.

Aber das ist ja nur ein ganz simples Beispiel, das Ganze geht ja viel tiefer. Denn das, was ich bin, sind ja auch meine Erinnerungen, meine Persönlichkeit, meine Ängste, meine Träume, meine Zukunftsprojektionen. Auch das ist letztendlich etwas, das ich, wenn ich es einmal wissenschaftlich verstehen kann, auch verändern kann, natürlich immer zum Guten und zum Bösen. Das ist das doppelte Gesicht der Wissenschaft als Ganzes.

""Jedes Gehirn lernt""

Pokatzky: In den Neurowissenschaften, also in Medizin, Biologie, Psychologie, ist in der letzten Zeit eher ein richtig großes Schlagwort, das von der Plastizität des Gehirns. Also damit wird beschrieben, dass die Gehirnstrukturen sich auch anhand dessen, was der Mensch erlebt, also auch der Umwelteinflüsse, verändern, also Gehirn wird auch beeinflusst durch Umwelt. Das würde bedeuten, das Gehirn ist lernfähig. Kann jedes Hirn alles lernen?

Güntürkün: Jedes Gehirn lernt, ob es das alles lernen kann, ist eine andere Frage, aber ich weiß nicht, wie viele Menschen uns in diesem Augenblick zuhören. Aber wir beide, Sie und ich, verändern in diesem Augenblick das Gehirn dieser Menschen. Und Sie verändern mein Gehirn ...

Pokatzky: Durch Wissen, weil Sie ihnen jetzt Wissen vermitteln. Damit wird Bildung erzeugt, aber wieso verändert das das Gehirn?

Güntürkün: Weil das Gehirn ja nur Hardware ist und keine Software. Es ist eine Hardware, die aus Milliarden von einzelnen Kontakten zwischen Nervenzellen besteht, und diese Kontakte speichern unser gesamtes Gedächtnis. In diesem Augenblick verändern Sie und ich Millionen von Kontakten in den Gehirnen unserer Zuhörer. Und das ist das Substrat quasi, die anfassbare Grundlage des Gedächtnisses, das wir mit uns herumschleppen. Und wenn Sie sich an irgendetwas aus Ihrer frühesten Kindheit erinnern, so sind diese Kontaktstellen seit Jahrzehnten in Ihrem Gehirn aktiv und codieren diese Kindheitserinnerungen.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Onur Güntürkün, Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum: "Wie wurde ich zu der Person, die ich bin?", das ist unser Thema. Und wenn jetzt also Jahrzehnte bei mir dieses im Gehirn abgespeichert ist, dann müssten wir jetzt doch noch mal ganz genau reden über Umwelteinflüsse und die Gene in dem Zusammenhang.

Die Genforscher haben ja lange Jahre eine Hochkonjunktur gehabt bei uns, mit all dem, was sie so genetisch am Menschen und an Pflanzen manipulieren konnten, und die Sozialwissenschaft hat da im Grunde immer mehr so eine Hintergrundrolle gespielt, die gesagt hat, wie sehr der Mensch durch die Umwelt beeinflusst wird. Und jetzt kommen die Epigenetiker, das sind die Genbiologen, und die untersuchen den Einfluss der Umwelt auf das Erbgut. Wie läuft das ab?

Güntürkün: Das läuft zum Beispiel dadurch ab, dass Sie – als Beispiel – heute Nachmittag nach Hause gehen und sich dann, was weiß ich, an einer zu heißen Tasse Kaffee verbrühen ...

Pokatzky: Tee!

Güntürkün: Tee ... hoffentlich passiert das nicht, aber gesetzt den Fall, es passiert, und plötzlich entwickeln Sie eine Art Angst gegen heiße Tassen mit Tee. Und es kann sein, dass diese Angst dazu führt, dass einige ihrer Gene eingeschaltet oder abgeschaltet werden, und es bedeutet, dass diese Gene in Zukunft nicht mehr so aktiv sind, wie sie vorher waren. Das heißt, Umwelterfahrungen, drastische Erfahrungen, auch schöne Erfahrungen können dazu führen, dass wir unsere Gene ein- und abschalten.

Und es gibt sogar Hinweise, nach denen im Moment sehr heftig geforscht wird, dass dies auch weitervererbt werden kann an die nächste Generation. Das heißt, wenn eine Kriegsgeneration extrem Hunger leidet, kann es sein, dass die Gene der ungeborenen Kinder, die erst danach gezeugt werden, Spuren dieses Hungers noch in sich tragen.

""Die Welt ist viel komplexer, als wir meinen""

Pokatzky: Könnten auch traumatische Erfahrungen – Erlebnisse von Soldaten im Krieg, Zweiter Weltkrieg oder jetzt im Afghanistaneinsatz der Bundeswehrsoldaten – könnten die so dann auch vererbt werden?

Güntürkün: Natürlich! Ungeborene, deren Müttern Gewalt angetan wurde, die haben Veränderungen ihres Erbgutes mit ein- oder abgeschalteten Genen, die vor allem im Stresssystem eine Rolle spielen, die dazu führen, dass diese Menschen als Erwachsene anders sind, als wenn ihre Mütter dies nicht erlebt haben.

Die Geschichte, die Welt ist viel komplexer, als wir meinen. Es ist nicht so, dass die Gesellschaftswissenschaften plötzlich eine nachgeordnete Rolle spielen, es sind alles Big Player. Unsere Umwelt, unsere Kultur, unser Gehirn, unsere Gene, die Gesellschaft und wir selbst, wir alle beeinflussen uns ununterbrochen gegenseitig. Die Welt ist schwieriger, als wir glauben, aber sie ist viel vielfältiger, und unsere eigene Plastizität ist enorm.

Pokatzky: Wenn es da jetzt also so einen Mittelweg, wenn es da so eine Art Kompromiss dann gibt, glauben Sie, das wird sich auch in der Wissenschaft durchsetzen und nicht nur in dieser Konkurrenzgeschichte, Genetiker auf der einen, Sozialwissenschaftler auf der anderen Seite?

Güntürkün: Also ganz ehrlich, ich bin ja mehr auf der naturwissenschaftlichen Seite, und ich habe diese Einseitigkeit zumindest bei den Natur- und Neurowissenschaftlern nie erlebt. Sie haben niemals in Zweifel gestellt, dass die Umwelt eine maßgebliche Erfahrung spielt. Es scheint mehr zu sein, dass das von den Sozialwissenschaftlern so wahrgenommen wurde. Dies ist wirklich nicht der Fall.

Ich möchte ein ganz kleines Beispiel geben, vor Kurzem erschienen in "Science", einer wichtigen Fachzeitschrift: Man nimmt Mäuse, die genetisch praktisch identisch sind, und man verfolgt sie über längere Zeit, und man stellt fest, dass einige von diesen Mäusen sich anfangen, ganz anders zu verhalten, Territorien zu erobern, die den anderen nicht zu erobern gelingen. Die Mäuse werden plötzlich verschieden. Und mit dem Verschiedenwerden dieser genetisch praktisch identischen Mäuse verändert sich das Gehirn dieser Tiere.

Das heißt, kleine Veränderungen, ein Territorialkampf, der von der einen Maus zufällig gewonnen, von der anderen aber verloren wurde, stellt Weichen für die Zukunft dieser Individuen, stellt Weichen für ihr Gehirn, macht eine andere Person aus ihnen.

Pokatzky: Herr Güntürkün, wenn die nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle nun die Frage stellen wird bis zum Sonntag, wie wurde ich zu der Person, die ich bin, wird die Leopoldina diese Frage auch beantworten können?

""Unglaublich simple Genintelligenz-Debatten""

Güntürkün: Sie wird Facetten dieser Frage beantworten können. Diese Frage ist viel zu groß, als dass man sie wirklich vollständig beantworten könnte, aber diese Frage muss gestellt werden. Und sie muss vor allen Dingen in der Komplexität gestellt werden, die sie verdient, und eben nicht in diesem vereinfachten Modus, den wir gerade in Deutschland leider in den letzten Jahren erlebt haben, in denen wir so unglaublich simple Genintelligenz-Debatten erlebt haben, die, glaube ich, diesem Land unwürdig sind.

Pokatzky: Onur Güntürkün, Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, vielen Dank und natürlich ganz viel Spaß bei der Tagung in Halle!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Gitterstruktur der linken Gehirnhälfte.
Die Gitterstruktur der linken Gehirnhälfte.© Science/MGH-UCLA Human Connectome Project]
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