"Wir müssen uns nach der Decke strecken"

Meinhard Miegel im Gespräch mit Andreas Müller · 23.02.2010
Für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, sei eine Grundsatzregel für jeden Bürger in einem freien Land, sagt der Sozialforscher Meinhard Miegel. Nur etwa acht Prozent aller Erwerbstätigen gingen einer Arbeit nach, die sie wirklich gerne täten.
Andreas Müller: In Bonn begrüße ich jetzt den Sozialforscher Meinhard Miegel. Herr Miegel, was sagen Sie zu diesem Beispiel, eine Mutter, die auf ihr Recht beharrt, sich um ihre Kinder zu kümmern, anstatt Vollzeit arbeiten zu gehen und dann kaum noch Zeit für die Kinder zu haben?

Meinhard Miegel: Ja, das ist menschlich überaus verständlich, dass eine Mutter so reagiert, das ist für mich schon sehr einsichtig. Das Problem ist nur, die Mittel, die von dieser Frau verbraucht werden für sich und ihre Kinder, sind ja erarbeitet worden, aufgebracht worden von ihren Nachbarn, von Steuerzahlern. Es ist ja nicht so, dass da irgendein anonymer Staat auf einer großen Geldkiste sitzt und sagt, jetzt gebe ich diesem oder jenem irgendwelche Mittel, sondern die Mittel müssen aufgebracht werden. Und die werden zum Teil auch aufgebracht von Menschen, die wirtschaftlich nicht sehr viel anders dastehen als diese Hartz-IV-Empfängerin, und insofern lebt sie schon auch auf Kosten anderer.

Müller: Aber es ist doch ehrenwerter Ansatz: Die Frau kümmert sich bestens um den Nachwuchs, arbeitet auch noch ehrenamtlich, sie sorgt also für einen guten Start der Söhne ins Leben. Das sollte doch eigentlich honoriert werden?

Miegel: Ja, das ist alles sehr schön, trotzdem ist jeder Mensch verpflichtet, zunächst einmal für seinen eigenen Unterhalt zu sorgen. Wenn ich mich jetzt auf den Standpunkt stelle, ich habe zwei Kinder und ich kümmere mich um diese Kinder, und das muss von der Gesellschaft so honoriert werden, dass diese beide Kinder und ich auskömmlich leben können, dann ist das eine Fehlkonzeption, denn so funktioniert Gesellschaft nicht. Wenn alle sich so verhalten würden wie diese Frau – und das ist ja normalerweise der Test –, dann würde die Gesellschaft ganz schnell zusammenbrechen, trotz der guten Kindererziehung, die die Frau ihren Kindern angedeihen lässt.

Müller: Sie bricht aber doch schon an ganz anderen Stellen: Der Staat fordert mit hohen Summen die absurdesten Vorhaben, Infrastrukturmaßnahmen, die keiner braucht, verplempert zig Millionen Steuergelder – das rechnet uns der Bund der Steuerzahler jedes Jahr vor – und unterstützte kürzlich noch unfähige Banker mit Milliarden von Euro. Warum sollte man also dieser Frau ihr Recht auf einen so persönlichen Lebensentwurf streitig machen?

Miegel: Na ja, wenn große Fehlleistungen erbracht werden – und Sie haben ja eben einige davon genannt –, dann ist das ja noch keine Begründung oder gar Rechtfertigung dafür, dass jetzt an anderer Stelle auch Fehlleistungen erbracht werden. Nein, ich wiederhole das, was ich eben gesagt habe: Wenn viele Menschen sich so verhalten würden, würde das ganze gesellschaftliche Gefüge bersten, dann würde die Gesellschaft nicht mehr funktionieren können, so kann sich eine Gesellschaft nicht verhalten.

Müller: Aber wo fängt die Verantwortung denn an, gibt es nicht vielleicht einfach viel zu wenig Jobangebote für Alleinerziehende – und das sind fast immer dann auch Mütter?

Miegel: Na ja, wenn ich jetzt diesen Fall richtig verstanden habe, dann war ja die Frau recht wählerisch. Sie hat gesagt, also ich bin bereit, unter diesen ganz konkreten Bedingungen einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, aber jetzt, liebe Gesellschaft, sieh mal zu, wie du diese Jobs oder diesen Job, den ich bereit bin anzunehmen, auch schaffen kann. Und auch das funktioniert nicht. Wenn man sich vor Augen führt, dass etwa 8 Prozent unserer Erwerbstätigen die Tätigkeit ausführen, von der sie meinen, das ist also wirklich das, was wir gerne tun, und 92 Prozent sagen, na ja, was sollen wir machen, wir müssen uns nach der Decke strecken, dann ist das zwar nicht sehr schön – ich könnte mir auch eine angenehmere, eine menschengemäßere Gesellschaft vorstellen –, aber so ist nun einmal die Wirklichkeit. Und wenn sich dann Einzelne hinstellen und sagen, wir machen da nicht mit, entweder wir kriegen das, was wir für unseren Lebensentwurf brauchen, oder wir klinken uns aus, dann haben wir ein Problem.

Müller: Aber was schlagen Sie vor, wenn auf einmal eine Frau mit zwei Kindern ihr Leben alleine regeln muss, und im wahrsten Sinne des Wortes alleine regeln muss. Inwieweit muss sich jemand da von seinem Lebensentwurf verabschieden? Ich meine, wir sind ja ein freies Land, es ist ja nicht eine kommunistische Gesellschaft, die mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe.

Miegel: Ein freies Land, das ist schon richtig, aber zu dem freien Land gehört die Freiheit aller, und zu den Freiheiten aller gehört, dass ich eben, wie ich eben schon gesagt habe, zunächst für meinen Lebensunterhalt aufkomme. Das ist die Grundsatzregel. Und was jetzt in diesem konkreten Fall zu tun ist, das steht schon in einem Gesetz, da brauch ich jetzt gar nicht etwas dazuzutun. Das Kind ist über drei Jahre alt, mithin hat dieses Kind nach den gesetzlichen Regelungen in einer Kindertagesstätte untergebracht, muss untergebracht werden, und das andere Kind ist ja ohnehin in der Schule, und somit hat die Frau schon die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und damit einen Beitrag zu ihrem Unterhalt und dem Unterhalt ihrer Kinder zu leisten.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit dem Sozialforscher Meinhard Miegel. Herr Miegel, Sie kritisieren, dass die Menschen zu schnell nach dem Staat schreien, aber man kann den Ball ja auch zurückgeben und sagen: Es gibt diese Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, und eine Mutter mit zwei Kindern, die erhält vom Staat rund 1500 Euro. Im Dienstleistungssektor könnte sie entsprechend ihrer Qualifikation knapp genauso viel verdienen, also geht dafür etwa 40 Stunden die Woche arbeiten. Also warum arbeiten gehen, wenn man genauso viel bekommt, wenn man nicht arbeiten geht? Sind die Löhne in diesem Land nicht einfach viel zu niedrig?

Miegel: Etwa ein Sechstel unserer Erwerbsbevölkerung erzielt Einkommen, die sich so in dem Hartz-IV-Bereich bewegen, und 40 Prozent von diesem Sechstel ist vollzeitbeschäftigt. Also insofern kann man schon sagen, warum arbeiten gehen, wenn ich nicht über Transfers, über Hartz IV genauso viel bekomme. Aber das ist das Einkommensgefüge in einem Land wie Deutschland, in vielen anderen Ländern auch, und die entscheidende Frage ist: Was passiert mit diesen Jobs, wenn ich jetzt dort Einkommen zahlen würde, Löhne zahlen würde, die mich substanziell über das Hartz-IV-Niveau hinausführen? Das Ergebnis wäre mit großer Wahrscheinlichkeit, dass ein Teil dieser Tätigkeiten entfallen würde, und wir hätten wieder eine Arbeitslosensituation, wie wir sie vor wenigen Jahren ja schon mal gehabt haben.

Müller: Heißt das im Umkehrschluss, die 1500 Euro für eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern einfach mal halbieren, weil dann würde sie wahrscheinlich ja versuchen, sich eine Arbeit zu suchen?

Miegel: Nein, dafür plädiere ich auch nicht. Wir haben in dieser Gesellschaft eine Grundsatzentscheidung gefällt, und die lautet, dass wir politisch ein soziokulturelles Existenzminimum definieren. Das haben wir jetzt mal so definiert, wie es ist, und jetzt kann man lange Debatten darüber führen, ob das zehn Prozent tiefer sein soll oder zehn Prozent höher, die Meinungen in der Bevölkerung gehen hierüber ja weit auseinander. Also das ist schon in Ordnung, was wir da gemacht haben. Nur der entscheidende Punkt ist, dass im Gesetz ganz klar geregelt ist, für diese Transfers muss der Transferempfänger eine Gegenleistung erbringen. Und das Problem dieser Gesellschaft besteht darin, dass diese Gegenleistung häufig nicht eingefordert wird. Und dadurch ergibt sich dann diese Debatte, wieso muss ich arbeiten, um dieses Einkommen zu erzielen, und mein Nachbar hat das gleiche Einkommen, ohne zu arbeiten.

Müller: Also versagt der Sozialstaat da irgendwo, er zahlt, aber er will nichts?

Miegel: So ist es. Der Sozialstaat hat geregelt, wenn du eine Leistung von mir, dem Sozialstaat erhältst, dann musst du auch eine Gegenleistung erbringen, aber diese Gegenleistung wird häufig nicht erbracht und sie wird auch nicht eingefordert.

Müller: Morgen erscheint ein neues Buch von Ihnen, "Exit. Wohlstand ohne Wachstum". In einem Interview mit der "FAS", da haben Sie bemängelt, dass sich der soziale Bundesstaat zu einem Sozialstaat gewandelt hat, der die Mittel und Kräfte dieses Gemeinwesens entsprechend einsetzt, eben für Soziales, dass darunter wenig Zukunftsweisendes ist, liegt auf der Hand, Zitat Ende. Und dann kommt noch ein Satz, in dem es heißt: Wir werden umlernen müssen, und sei es durch Schocks. Was für Schocks meinen Sie?

Miegel: Na ja, dass Dinge, an die wir uns gewöhnt haben, schlicht zusammenbrechen. Wir haben uns an einen materiellen Wohlstand gewöhnt, an ein Niveau, was erkauft worden ist mit enormen Opfern. Wir haben kostenlos die Rohstoffe für uns verbraucht, praktisch kostenlos, wir haben die Umwelt belastet, wir haben riesige Schuldenberge aufgehäuft, wir haben die Gesellschaft mürbe gemacht – das alles sind ja Preise für das, was wir als materiellen Wohlstand bezeichnet haben. Und das lässt sich nicht aufrechterhalten. Und ein Schock wäre, dass dieses Wohlstandsgefüge zusammenbricht. Wir haben jetzt so eine kleine Andeutung im Fall Griechenlands, möglicherweise Portugals, Spaniens, Italiens, Irlands als Nachfolge. Das sind alles Dinge, von denen wir jetzt schon sagen können, diese Gemeinwesen – und wir gehören da auch dazu – haben sich in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten wirklich übernommen, in jedweder Hinsicht übernommen. Und das ist nicht von Dauer.

Müller: Herr Miegel, ein Satz noch: Wie lange wird dieses bisherige System noch funktionieren, 10 Jahre, 20 Jahre, wann kommt der große Schock?

Miegel: Ich bin kein Hellseher, das kann sehr viel schneller kommen. Wir sehen es ja gerade in den Diskussionen, die wir an der Südflanke Europas führen, da hätte ja auch vor fünf Jahren niemand gesagt, dass das so rasch sich entwickeln könnte. Also ich bin kein Hellseher, ich weiß nicht, ob das zehn Jahre dauern wird oder fünf Jahre, aber es kann auch noch schneller kommen.

Müller: … sagt der Sozialforscher Meinhard Miegel. Sein Buch "Exit. Wohlstand ohne Wachstum" erscheint morgen, und morgen sprechen wir in unserer Hartz-IV-Reihe mit Konrad Tack. Er ist Geschäftsführer des Jobcenters Neukölln in Berlin. Und dann wird es gehen über das Phänomen der modernen Tagelöhner.
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