"Wir müssen altersbedingte Gebrechen medikamentös bekämpfen"

Moderation: Liane von Billerbeck · 01.06.2006
Der Neurobiologe und Medizin- Nobelpreisträger Eric Kandel hat sich für eine Arznei gegen die Vergesslichkeit ausgesprochen. "Ich glaube, ein solches Medikament wäre außerordentlich hilfreich, insbesondere in unserer Gesellschaft, die ja immer älter wird", sagte Kandel. Die Menschen lebten immer länger, "und es kann doch nicht unsere Zielvorstellung sein, dass man 90 Jahre alt wird, aber die letzten zehn Jahre ein mehr oder minder kümmerliches Dasein fristet."
Liane von Billerbeck: Herr Kandel, Ihr Buch heißt "Auf der Suche nach dem Gedächtnis", und Sie haben einmal gesagt: "Erst wenn ich weiß, was in meinem Gehirn passiert, wenn ich die Mona Lisa ansehe, dann höre ich auf." Weshalb muss man das wissen? Die Mona Lisa ist doch auch so schön.

Eric Kandel: Ja, warum ist das eigentlich so, dass wir dieses Kunstwerk als etwas so Besonderes empfinden, dieses rätselhafte Lächeln der Mona Lisa wahrnehmen und aufnehmen - und vollständig gleichgültig bleiben gegenüber einer anderen Frau, die lächelt, weil es uns einfach kalt lässt? Was geschieht da eigentlich in uns? Was ist der Grund dafür, dass wir etwas als schön empfinden und anderes als gleichgültig? Das sind die tiefsten Probleme, denen sich die heutige Naturwissenschaft gegenübersieht, und ich denke, denen müssen wir auf den Grund gehen.

Von Billerbeck: Sie haben im Jahr 2000 einen Nobelpreis bekommen für Medizin und Physiologie: Dafür, dass Sie entdeckt haben, welches Protein dafür zuständig ist, dass bestimmte Verbindungen zwischen Neuronen intensiver werden, dass aus einem flüchtigen Eindruck etwas sich im Gedächtnis festhakt. Wie weit sind Sie damit gekommen, um festzustellen, wann wir etwas vergessen und wann wir etwas behalten?

Kandel: Ich habe herausgefunden, dass man beim Lernen, wenn man nicht aufmerksam bei der Sache ist, wenn man nicht achtet, auf das was da geschieht, dann vielleicht das Gelernte, das Ereignis oder die Erfahrung für eine kurze Zeit behält, aber sie eben nicht langfristig abspeichert. Das heißt, man vergisst sie dann wieder. Nur durch diese Aufmerksamkeit erreicht man es, dass ein erlernter Vorgang auch beständig abrufbar bleibt. Und das finde ich äußerst faszinierend zu erforschen, und ich bin auch gerne bereit, darüber noch mehr zu erklären.

Von Billerbeck: Sie kommen ja aus Wien und ich las, dass Sie durchaus auch überlegt haben, am Anfang, Psychoanalytiker zu werden. Wenn man Ihr Buch liest, dann merkt man, dass da ein Wissenschaftler, ein Naturwissenschaftler, denkt und forscht, der von Sigmund Freud stark beeinflusst ist. Wollten Sie wissen, wo das Ich und das Über-Ich und das Es und das Unbewusste sitzt im Gehirn? War das unter anderem auch ein Motiv, Neurobiologe zu werden?

Kandel: Ja, so ist es. Sie wissen ja vielleicht, und das ist auch in dem Buch dargelegt, dass Freud selbst eine Zeichnung über die räumliche Anordnung des Ich, des Über-Ich und des Es veröffentlicht hat. Und es war tatsächlich mein Bestreben, so etwas dann labortechnisch auch auszukundschaften. Ich ging also in ein Labor mit diesem Ansinnen, und der Chef dieses Labors schaute mich recht entgeistert an und versuchte mich gleich davon abzubringen. Erstens weil er äußerst skeptisch war, ob diese Strukturen wirklich existierten, und zweitens dann, weil ja die Hirnforschung zum damaligen Zeitpunkt ganz entschieden gegen eine derartige Ausrichtung der Lokalisierung von solchen Hirnfunktionen war, die man als viel zu komplex erachtete. Und er hat mich dann auf die andere Schiene gesetzt, dass ich eben von unten anfange, dass ich zunächst einmal das Geschehen in einer einzigen Zelle betrachte, dass ich also meine Ansprüche sehr viel bescheidener fasse.

Von Billerbeck: Und jetzt sind Ihre Ansprüche gewachsen und jetzt wollen Sie natürlich mehr wissen, als das, was in dieser einzigen Zelle passiert?

Kandel: Sie haben Recht. Wobei ich gleich einschränkend sagen muss: Ich war nie nur an dem interessiert, was innerhalb einer einzigen Zelle geschieht. Mir war von Anfang an klar, dass bei der Analyse auch einer einzigen Zelle stets auch die anderen Zellen mit ins Spiel kommen. Aber es ist richtig, ich habe zunächst einmal das Verhalten einer einzelnen Zelle versucht zu verstehen. Jetzt bin ich sehr viel ehrgeiziger, reiche sehr viel weiter hinaus. Aber nicht nur wegen meiner persönlichen Empfindlichkeit, sondern weil ich Teil einer ganzen Generation von Biologen bin, die über die letzten 50 Jahre eine ganz stürmische Entwicklung mitgemacht hat, gemeinsam. Wir sind jetzt daran, eine ganze Reihe von Problemen anzugehen, die wir vor 50 Jahren einfach nicht verstehen konnten. Wir sind am Anfang dessen, was man ein ganzes Verständnis von geistigen Vorgängen benennen könnte. Und das betrifft nicht nur die Hirnforschung, sondern auch die Biologie als Fach insgesamt.

Damals, als ich mit meiner wissenschaftlichen Arbeit anfing, in den 1950ern und folgenden, war Biologie irgendwo in der Hierarchie ganz unten. Physik und Chemie waren oben auf der Leiter, Biologie unten. Aber dank der Forschungen von Biologen wie Watson, … und anderen, hatten wir jetzt eine ganz erhebliche Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen. Biologie steht heute keineswegs hinter den Nachbardisziplinen zurück. Sie ist sogar aufgrund dieser Erkenntnis noch bedeutsamer geworden, hat viel größere Auswirkungen auf andere Fächer, als so manche andere Wissenschaft. Die Biologie hat eine vollständige Verwandlung durchgemacht. Und im Lichte dieser Verwandlungen stellen sich jetzt eine ganze Fülle von neuen Fragen dar.

Von Billerbeck: Welche neuen Fragen sind das, die Sie sich jetzt als älterer Mann stellen, die Sie vor 50 Jahren noch nicht gestellt haben?

Kandel: Ich glaube, das ist nicht nur, weil ich älter geworden bin, sondern weil die Disziplin insgesamt älter geworden ist, dass wir diese neuen Fragen angehen. Aber welche Fragen sind das? Nun, was ist das, was geschieht bei unbewussten geistigen Vorgängen? Wie denken, wie empfinden die Menschen? Wie läuft optische Wahrnehmung ab? Zum Beispiel, was geschieht, wenn ich Sie anschaue und mir ein Bild von Ihnen mache? Oder was ist Schönheit? Warum ist Mona Lisa für uns schön?

Diese Fragen sind jetzt nicht nur Pseudowissenschaft oder Science-Fiction, sondern sie sind Bestandteil ernsthafter naturwissenschaftlicher Forschungen geworden. Es ist doch auch etwas ganz Wunderbares, diese Fähigkeit zu haben, sich ein Gemälde vorzustellen. Wie ist das möglich? Oder eine Statue, die ich gestern im Gropiusbau gesehen habe. Wie kommt es, dass ich sie heute wieder aufrufen kann? Eine wunderbare geistige Fähigkeit, die eine biologische Grundlage hat. Wie ist es möglich, dass ich mich jetzt zurückversetze in das Jahr 1938 und meine Kindheit wieder aufrufe? Das sind doch solche geistigen Leistungen, die wir als Biologen versuchen müssen, zu verstehen.

Von Billerbeck: Und welche Rolle spielt dabei das Protein, das Sie irgendwann zu entschlüsseln hoffen, warum wir die Mona Lisa eben schön finden?

Kandel: Ich habe einen bestimmten Stoff gefunden, CREB 1 nannte ich den, der dafür verantwortlich ist, dass eine Kurzzeiterinnerung als Langzeiterinnerung verankert ist. Wenn Sie so wollen, eine Art Schalter, der dafür sorgt, dass das, was zunächst im Kurzzeitgedächtnis ist, dann auch ins Langzeitgedächtnis überführt wird. Das ist eine Rolle dieses Elements, oder des Stoffes, bei dem aber nicht nur ein Protein eine Rolle spielt, sondern sehr wohl andere Proteine auch.

Von Billerbeck: Wenn man über dieses oder andere Proteine spricht, oder nachdenkt, dann kommt man ja schnell auf das Thema, das sehr Science-Fiction-mäßig klingt, nämlich auf das Thema, wie es wäre, wenn man eine solche Gedächtnispille aus diesem Stoff herstellen könnte, wenn man dieses Protein also künstlich herstellen könnte. Ist das eine Vorstellung die Sie reizt, oder ist das eine Vorstellung, die Sie auch fürchten?

Kandel: Ja, diese Vorstellung hat für mich eine außerordentliche Attraktivität. Wie ich im Buch geschrieben habe, und wie Sie ja vielleicht auch wissen, habe ich eine Firma gegründet, Memory Pharmaceuticals, die sich diesem Thema widmet. Ich halte eine derartige Medizin in der Tat für sehr wünschenswert. Nehmen Sie einmal 100 Menschen, die älter als 70 Jahre sind, dann werden 60 von ihnen, also 60 Prozent aller Menschen über 70 Jahren, mit Gedächtnisausfällen zu kämpfen haben. Die Hälfte von ihnen auf Grund von Alzheimer-Erkrankungen, die andere eben aufgrund von altersbedingter Gedächtnisschwäche, oder wie immer man das nennen will.

Ich glaube also, ein solches Medikament wäre außerordentlich hilfreich, insbesondere in unserer Gesellschaft, die ja immer älter wird. Die Menschen leben immer länger, und es kann doch nicht unsere Zielvorstellung sein, dass man 90 Jahre alt wird, aber die letzten zehn Jahre ein mehr oder minder kümmerliches Dasein fristet. Ich denke, es ist sehr wohl unsere Aufgabe, solche altersbedingten Gebrechen, wie Arthritis, Gedächtnisschwäche, Gleichgewichtsstörungen oder Sehstörungen medikamentös zu bekämpfen, und ich glaube, dass dies lohnenswert ist. Wenn Sie mich aber fragen, sollte man eine solche Gedächtnispille einem 15-jährigen Schüler verschreiben, der sich auf das Abitur vorbereitet, dann ist meine Antwort natürlich: Nein.

Von Billerbeck: Was ist Ihre größte Hoffnung, was Sie im Leben noch erreichen wollen, in Ihrem wissenschaftlichen Leben? Gibt es da noch einen Traum?

Kandel: Nun, zunächst einmal kann ich sagen, ich habe wirklich ein sehr erfülltes Leben gehabt. Ich bin zutiefst befriedigt und dankbar über das, was ich erleben und forschen durfte, in den USA an der Columbia-Universität, mit diesen großartigen Kollegen. Es geht mir also nicht so, wie dem goethischen Faust am Ende von Teil zwei, wo er noch weit in die Zukunft hinausschaut. Oder wie Moses, der am Ende seines Lebens noch ins gelobte Land hinüberschaute.

Ich bin aber andererseits nicht am Ende meiner wissenschaftlichen Bemühungen angelangt. Ich bin durchaus noch ehrgeizig. Gerade jetzt arbeite ich daran, was geschieht, wenn Erinnerungen im Langzeitgedächtnis abgelegt und verankert werden. Und ich bin darauf gekommen, dass ein Protein dafür verantwortlich ist, das eine besondere Eigenschaft hat, nämlich, dass es sich selbst fortpflanzt, sich selbst beständig weiter zeugt. Also ähnlich wie die Brionen. Aber anders als die Brionen, die wir sonst kennen, führt es nicht dazu, andere Zellen abzutöten. Es ist also ein ganz besonderes Protein. Das erste, sich selbst weitergebende Protein, das also nur wohltätige Effekte hat. Daran arbeite ich gerade. Ich habe drei, vier Jahre daran schon geforscht. Ich glaube, ich werde noch fünf oder sechs weitere Jahre dafür benötigen. Wird das dann der Endpunkt meiner wissenschaftlichen Karriere sein? Ja, wenn ich keine neuen Ideen habe, schon. Wenn ich aber neue Einfälle habe, dann werde ich natürlich weitermachen. Ich bin also sozusagen der Don Giovanni der Wissenschaft.

Von Billerbeck: Herzlichen Dank für das Gespräch.