"Wir leben von Tag zu Tag"

Werner Penzel im Gespräch mit Alexandra Mangel · 31.03.2011
"Es gibt einfach zwei völlig verschiedene Realitäten in diesem Land", sagt der deutsche Filmemacher Werner Penzel über die Situation in Japan mit Hinblick auf die AKW-Katastrophe. Er und seine Frau haben in ihrem Haus auf der japanischen Insel Awajishima südwestlich von Osaka Flüchtlinge aus Tokio aufgenommen. Bei ihm könnten die Kinder draußen spielen. Ihn umgebe Kinderlachen.
Alexandra Mangel: Der deutsche Filmemacher Werner Penzel lebt mit seiner Frau Ayako Mogi, einer japanischen Fotografin, und den beiden Töchtern seit zwei Jahren in Japan, genauer gesagt auf Awajishima, einer Insel südwestlich von Osaka. Sie leben dort in einem ehemaligen Schulhaus, wo sie das Kunstprojekt Nomadomura aufgebaut haben, ein Austauschprojekt für Künstler aus Ost und West. Nach dem Erdbeben vom 11. März haben Werner Penzel und seine Frau im Internet das Angebot veröffentlicht, Opfer der Katastrophe, aber auch Menschen, die einfach Angst vor den Strahlen haben, kostenlos bei sich aufzunehmen. Das hat sich schnell herumgesprochen – derzeit leben im Schulhaus von Awajishima zwölf Kinder und ihre Mütter, die Väter sind mittlerweile nach Tokio zurückgekehrt und arbeiten dort wieder. Und ich bin jetzt mit Werner Penzel direkt auf Awajishima verbunden. Herr Penzel, wie geht es den Frauen und Kindern derzeit, die sich zu Ihnen geflüchtet haben?

Werner Penzel: Na ja, wenn man die Situation im Norden betrachtet, geht es uns blendend. Es ist ja erstaunlich dann wieder zu beobachten, das gilt nicht nur für hier, sondern, denke ich, generell, wie plötzlich Kinder, die ja alle aus Kleinfamilien stammen, plötzlich zu zwölft oder zu dreizehnt oder zu fünfzehnt ihr eigenes Ding entdecken und ihre eigene Welt organisieren. Wir haben viel Kinderlachen um uns, es ist völlig absurd, weil da oben, für Hunderttausende ist es wirklich fürchterlich, und hier unten, wo bislang Gott sei Dank wegen der Winde, die hauptsächlich auf dem armen, geplagten Pazifik hinausgeweht sind – wir hatten ja bislang keinen Fallout, wie zum Beispiel München zu Tschernobyl-Zeiten, wo die Regierung auch gesagt hat, das ist alles völlig unbedenklich, und die Kinder wurden in die Sandkästen geschickt. Und ich kenne es aus meiner eigenen Familie in Niederbayern ...

Mangel: Sie haben Tschernobyl in München erlebt?

Penzel: Ja, und zwei, drei Jahre später ist meine wirkliche Lieblingsnichte an Leukämie erkrankt und ... ach, fürchterlich, ich möchte gar nicht darüber nachdenken. Aber das war auch wesentliche Motivation, zumindest für die Kinder hier den Ort offen machen.

Mangel: Warum sind die Familien, die jetzt bei Ihnen sind, warum sind die zu Ihnen gekommen?

Penzel: Das geht ja mit dem Internet heutzutage sehr schnell – die Freunde von Freunden und die Bekannten von Freunden und so weiter –, und da hatten wir innerhalb von 48 Stunden das Haus voll. Dann haben wir gemerkt, wir können nicht mehr weiter, und dann haben wir die Inselverwaltung flehend gebeten, doch die leeren Wohnungen, die es auch auf dieser Insel gibt, zu öffnen für die Flüchtlinge aus dem Norden. Das heißt, im Wesentlichen leiten wir alle Anfragen, die an uns kommen, an die Inselverwaltung weiter, und die Leute kriegen dann hier auf der Insel eine neue Wohnung oder ein Bauernhaus, was leer steht, zugewiesen. Insofern sind wir inzwischen mehr Kommunikationszentrum als Flüchtlingslager.

Mangel: Was ist den Familien, die bei Ihnen im Haus jetzt leben, passiert, wie sind die betroffen von der Katastrophe?

Penzel: Im Wesentlichen in der Sorge um die Kinder. Und insofern möchte ich Ihnen jetzt einen kleinen Text, der von einer Neunjährigen geschrieben wurde, kurz vorlesen. Nico heißt das kleine Mädchen. "Zum Zeitpunkt, als das Erdbeben stattfand, war ich mitten in der Clubstunde. Da ich die Handwerksgruppe gewählt habe, war ich zu diesem Zeitpunkt im Werkraum. Ich will nicht sterben, so habe ich hektisch gedacht. Wenn das Erdbeben bald aufgehört hätte, hätte es kaum viele Schäden gegeben, aber da es lange dauerte und weil alles so schwankte, ist das Glas in den Fenstern gerissen, Tabletts sind heruntergefallen, ich hatte große Angst. Ich wurde dann von meinem Vater mitgenommen und nach Hause gebracht. Am Montag sind wir nach Awajishima gefahren. Als Folge des Erdbebens kam die Radioaktivität, deshalb sind wir gefahren. Weil es in Awajishima die Radioaktivität und die anderen Folgen des Erdbebens nicht gibt, kamen außer uns noch viele andere Menschen dorthin. Als wir dort die Nachrichten gesehen haben, war es wieder ein Schock. Ich will nicht noch mehr Tote, habe ich gedacht." Das ist der Text von Nico Mazuno.

Mangel: Also das hat die Kinder schwer verunsichert, was da passiert ist.

Penzel: Jetzt muss man dazusagen, die hatten ja in Tokio erlebt, wie die Eltern Papiertücher in die Fensterritzen gestopft haben, bevor sie abgefahren sind. Inzwischen sind die Kinder, hier können sie draußen spielen, wir sind von Kinderlachen umgeben und es gibt einfach zwei völlig verschiedene Realitäten in diesem Land Japan.

Mangel: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit dem deutschen Filmemacher Werner Penzel. Er und seine Frau haben in ihrem Haus auf der japanischen Insel Awajishima südwestlich von Osaka Flüchtlinge aus Tokio aufgenommen. Herr Penzel, seit dem Erdbeben, seit dem 11. März ist hierzulande sehr viel über die besondere Mentalität der Japaner geschrieben worden, darüber, wie ruhig sie seien, wie gefasst im Angesicht der Katastrophe. Man sah zum Beispiel Bilder von Menschen, die gesittet und diszipliniert lange Schlangen vor den Münzfernsprechern gebildet haben, um ihre Familien anzurufen. Wie haben die Menschen, die zu Ihnen geflüchtet sind, diese Katastrophe erlebt, wie erleben sie sie?

Penzel: Da habe ich wirklich Hochachtung vor der nicht nur japanischen, sondern fernöstlichen Mentalität, die im Zentrum die eigene Vergänglichkeit als was völlig Akzeptables und Natürliches und Selbstverständliches begreift, anders als unser oft abendländisches Ewigkeitsdenken. Für die Japaner ist es natürlich, dass die Dinge sich ständig ändern und dass man immer mit neuen Situationen sich abfinden und zurechtkommen und akzeptieren muss.

Mangel: Aber wie groß ist denn die Angst vor der radioaktiven Strahlung für die Menschen?

Penzel: Das ist ein neues Phänomen, weil in der japanischen Geschichte sind sowohl Erdbeben als Tsunamis Teil der nationalen Erzählung. Aber dann geht man hin und begräbt die Toten und baut wieder auf. Es gibt ja jetzt viele Menschen in der Gegend von Fukushima, die nicht begreifen können, dass sie nicht zurück können in ihre Dörfer. Ich habe heute gelesen, dass viele Leute aus den Lagern ausbrechen und zurückgehen in die evakuierten Zonen und zurückkommen in die Lager und erzählen den anderen: Du, da ist ja nichts, es ist wie immer. Weil die nukleare Verseuchung, die Kontamination, man riecht sie nicht, man spürt sie nicht, man sieht sie nicht.

Mangel: Aber wie sprechen die Menschen bei Ihnen im Haus, die Frauen, über diese Gefahr der Strahlung? Wie gehen sie damit um, wie gehen sie auch mit den unterschiedlichen Informationen um, die von verschiedenen Seiten kommen?

Penzel: Die Leute, die jetzt bei uns geblieben sind, das sind Leute, die in dem Sinne Auslandserfahrung haben, die in New York waren oder wo auch immer auf der Welt. Die sehen das anders als die, in Anführungsstrichen, "normale" japanische Bevölkerung, die nicht diesen Informationszugang hat, die nicht mehrsprachig ist. Die offiziellen japanischen Medien inklusive Fernsehen – es wird abgewiegelt und gelogen, die Leute werden nicht wirklich informiert. Insofern sind wir natürlich allemal hier in einer privilegierten Situation, und alle Mütter sagen, lassen wir die Kinder mal hier.

Mangel: Macht es die Leute allmählich auch wütend, dass sie nicht informiert werden, was passiert?

Penzel: Da ist ein großer Unterschied zwischen der deutschen Situation: In Deutschland standen letzten Samstag, wenn ich das richtig verstanden habe, 250.000 Leute auf der Straße, um gegen Atomenergie zu demonstrieren, in Japan waren es in Tokio einige Hundert. Und dazu gehört viel Mut in Tokio, weil solche Leute schnell als Vaterlandsverräter bezeichnet werden. Das sind zwei verschiedene Welten. Insofern versuchen wir auch, mit den Spendengeldern, die hierher fließen, nicht nur den Opfern selber zu helfen, sondern auch diese Initiativen zu unterstützen, was Informationen betrifft. Ich finde, es ist allerhöchste Zeit – für jeden Einzelnen von uns –, sich zu äußern.

Mangel: Und haben Sie den Eindruck, dass das den Menschen bei Ihnen im Haus auch so geht, dass sich deren Haltung zur Atomkraft verändert?

Penzel: Das ist gar keine Frage. Das ist eine Flutwelle, die genauso massiv – hoffe ich – werden wird, als Gegenreaktion, wie der Tsunami. Dass die Menschen weltweit einfach aufstehen und sagen, wir brauchen keine Atomkraft.

Mangel: Haben die Frauen bei Ihnen im Haus denn eine Vorstellung, wie es jetzt mit ihren Familien weitergeht, wann sie nach Tokio zurück können.

Penzel: Wir leben hier von Tag zu Tag, wir versuchen, aus den unterschiedlichsten Quellen objektive Informationen über die tatsächliche Situation zu gewinnen, wie das überall nicht so ganz einfach ist. Es war äußerst schwierig, einen Geigerzähler herzubekommen, weil die sind weltweit innerhalb von null Komma nichts aufgekauft gewesen. Und eine gute Freundin aus der Schweiz hat jetzt per Luftpost einen Geigerzähler an uns geschickt, sodass wir selber unsere Daten überprüfen können und schauen, was wir essen und ob wir die Kinder noch vor die Tür lassen können oder nicht. Wir leben von Tag zu Tag.

Mangel: Der deutsche Filmemacher Werner Penzel, er und seine Frau haben Flüchtlinge aus Tokio in ihrem Haus auf Awajishima südwestlich von Osaka aufgenommen. Danke schön fürs Gespräch, Herr Penzel, und alles Gute für Sie und die Menschen, die jetzt bei Ihnen leben!

Penzel: Ich danke Ihnen!
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