"Wir haben vollkommen verlernt, dass hier auch eine Seele geht"

02.11.2013
Der medizinische Fortschritt habe dazu geführt, dass wir den Tod zunehmend verdrängen, sagt die Sterbebegleiterin Christiane zu Salm. Mehr noch: Der Gesellschaft fehle eine Sterbekultur, beklagt sie. Dabei könne die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit eine wunderbare Erfahrung sein.
Hanns Ostermann: Augen zu und durch! Mit dem Tod beschäftigen sich viele erst dann, wenn sie selbst oder Angehörige betroffen sind. Das Sterben, auch wenn es zwangsläufig zum Leben gehört, macht Angst. In diesen Tagen – Allerheiligen, Allerseelen – werden wir wieder mit dem Tod konfrontiert und haben die Chance, uns der Angst zu nähern. Ein großer, ein schwieriger Schritt, den eine Frau ganz bewusst gemacht hat. Christiane zu Salm war eine erfolgreiche Medienmanagerin, dann verließ sie die schillernde Scheinwelt des Fernsehens und auch die des Geschäfts, jetzt engagiert sie sich ehrenamtlich als Sterbehelferin, und sie hat die Lebenserfahrungen Sterbender aufgeschrieben. Guten Morgen, Frau zu Salm!

Christiane zu Salm: Guten Morgen, Herr Ostermann!

Ostermann: Sein Leben ändert man selten radikal, es ist ja häufig ein Prozess. Gab es trotzdem für Sie Schlüsselerlebnisse?

zu Salm: Ja. In der Tat war das ein Prozess, zur Sterbebegleiterin zu werden. Mein Schlüsselerlebnis war eine Verlusterfahrung, die ich in frühester Kindheit gemacht hatte – da war ich sechs Jahre alt, da ist mein kleiner Bruder vor meinen Augen tödlich verunglückt. Und das war natürlich ein sehr einschneidendes Erlebnis, das ich aber erst sehr viel später in meinem Leben verarbeitet hatte. Und jetzt so, nachdem ich nicht mehr so aktiv im Medienbusiness tätig war, ist über die Jahre hinweg in mir so der Raum entstanden, mich diesem existenziellen Thema des Endes, des Endes des Lebens zu nähern.

Ostermann: Sie selbst waren auch einmal dem Tod sehr nahe.

zu Salm: Richtig. Das war vor ein paar Jahren, da war ich unter eine Schneelawine gekommen, die mich beinahe unter sich begraben hätte, die habe ich selber losgetreten, und das war so eine Art Nahtoderfahrung, die ich da gemacht habe. Und wie durch ein Wunder hat mich die Lawine wieder ausgespuckt.

Ostermann: Diese Erfahrung, lässt sich die überhaupt beschreiben?

zu Salm: Nur sehr schwer. Eigentlich nicht. Weil das ist eine Grenzerfahrung, das ist ja die Erfahrung der Grenze des Lebens, die man da macht, und das löst Gefühle und Gedanken aus, die jenseits von Sprache sind. Also ich finde das sehr begrenzt. Aber in mir hat dann schon das Interesse geweckt, in diese Angst reinzugehen, die ich ja auch nach wie vor habe, vor dem Sterben, vor dem Tod. Und ich wollte wissen, wie der Tod aussieht, ich wollte wissen, wie das Sterben riecht, wie sich das anfühlt, und hatte große Angst, ob ich das schaffen würde, sterbenden Menschen die Hand zu halten, ihnen in die Augen zu sehen, wenn ich weiß, dass sie schon bald nicht mehr da sein würden.

Ostermann: Gab es in dieser Phase, in der Sie sich haben ausbilden lassen, unterschiedliche Phasen, in denen Sie möglicherweise auch an diesem Schritt gezweifelt haben?

zu Salm: Nein, nicht, denn in dem Moment, wo ich begonnen hatte, wo ich die Angst überwunden hatte, mich überhaupt anzumelden zu einem solchen Kurs, war es eigentlich durchgehend eine ganz fantastische Erfahrung. Man lernt sehr, sehr viel über sich selber noch mal und lernt vor allen Dingen, Menschen zuzuhören. Das mag jetzt vielleicht erst mal etwas banal klingen, aber wenn man sich selber so zurücknimmt und das Ziel der Sterbebegleitung verfolgt, nämlich Menschen an ihrem Lebensende noch mal die Möglichkeit zu geben, dass in ihnen ein innerer Raum entsteht, zu sich selber zu kommen, Frieden mit sich selber zu machen, dann ist das eine wunderbare Erfahrung auch für den Lebenden.

Ostermann: Sie haben für Ihr Buch "Dieser Mensch war ich" 100 Sterbende gebeten, ihr Leben zu bilanzieren. Gibt es in diesen Berichten so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner, so etwas wie "hätte ich doch …" oder "schade, dass …"?

zu Salm: Eigentlich möchte ich über diese einzelnen Nachrufe gar nicht urteilen und sie einordnen und auch gar nicht vergleichen, denn jeder Einzelne spiegelt eine große eigene Welt wider. Mir ist aufgefallen, dass viele Menschen gesagt haben, hätte ich doch nur früher mein eigenes Leben gelebt und nicht das der Erwartungen von außen, die an mich herangetragen wurden. Das hat mich immer am meisten berührt, wenn jemand gesagt hat, er hatte nicht den Mut, sein eigenes Leben zu leben.

Ostermann: Und eine 86-Jährige schreibt in Ihrem Buch: Ich habe erst später gemerkt, dass wenn man im Streit ist und sich zusätzlich in Hass steigert, man sich damit nur selbst schadet. Steckt darin nicht möglicherweise doch so etwas wie Bedauern, so etwas wie "schade, dass …"?

zu Salm: Ja, natürlich. Und dem Leser bleibt überlassen, ob er sich davon angeregt fühlt, über sein eigenes Leben nachzudenken. Also mich hat jeder einzelne Nachruf, wie auch dieser Satz, den Sie gerade zitiert haben, sehr dazu angeregt, über mein eigenes Leben nachzudenken. Und ich lebe seither, seit ich die Sterbebegleitung mache – und die mache ich ja auch noch weiter –, ein sehr viel bewussteres Leben, ein klareres Leben, dahingehend, dass ich sehr viel genauer weiß zu unterscheiden zwischen dem, was wichtig ist, und dem, was nicht wichtig ist.

Ostermann: Hatten Sie von Beginn an auch in der Familie Unterstützung?

zu Salm: Also mein Mann, als ich ihm gesagt habe, ich möchte eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Sterbebegleiterin machen, der war erst schockiert. Der hat gesagt, oh je, dann trägst du ja Trauer und Depressionen zu uns nach Hause in die Familie, und ich hab ja noch relativ kleine Kinder, wo also gerade der Beginn des Lebens eher herrscht. Und dann musste ich ihm auch das Versprechen geben, dass wenn mich das zu sehr belastet und zu traurig macht, dass ich dann damit aufhöre. Und jetzt, wo er merkt, was das auch mit mir macht, ist er sehr, sehr angetan, weil es auch ihn zum Nachdenken angeregt hat.

Ostermann: Frau zu Salm, jeder weiß, ich werde sterben, er wird sterben, die Frage ist nur, wann und wie. Warum ist dieses Thema noch immer ein Tabu?

zu Salm: Weil es die letzte verbliebene Grenze ist in unserem Leben, in unserer Gesellschaft, denn wir leben ja in einer vollkommen entgrenzten Zeit. Alles ist überall möglich, jederzeit, nur diese Grenze, die haben wir noch nicht verschieben können, also das Ende kommt eben auf jeden zu. Und was ich auch so wunderbar finde, so friedensstiftend auch irgendwie, dass jeder Mensch am Ende seines Lebens in der gleichen Situation ist, egal ob der große Philosoph oder die Penny-Markt-Verkäuferin. Irgendwie haben wir alle mehr oder weniger dasselbe Ende, und das sollte uns doch, den Lebenden, auch zu denken geben dahingehend, dass man ein Stück wieder versucht zu begreifen zu lernen, dass wir nur einmal leben. Also mehr sich nähern diesem Thema kann man, glaube ich, nicht.

Ostermann: Verdrängen wir heute mehr als früher?

zu Salm: Ja, klar. Das ist auch dem Wohlstand geschuldet, es ist auch dem medizinischen Fortschritt geschuldet, der ganz darauf abstellt, das Leben zu verlängern. Also ich hab mal gesagt, es gibt immer mehr Schläuche, aber immer weniger Seele. Wir haben ja vollkommen verlernt unsere Sterbekultur. Früher hat man den Tod viel mehr akzeptiert, weil es ja auch viele andere Dinge gab, die es zu akzeptieren galt, wie zum Beispiel Kriege und andere äußere Umstände – Armut und so. Wir haben vollkommen verlernt, dass hier auch eine Seele geht und nicht nur ein Körper. Und deswegen glaube ich sehr wohl, dass wir das heute mehr verdrängen als früher.

Ostermann: Die frühere Medienmanagerin und heutige Sterbebegleiterin Christiane zu Salm, Autorin des Buches "Dieser Mensch war ich". Frau zu Salm, danke Ihnen für das Gespräch und ein schönes Wochenende!

zu Salm: Vielen Dank!


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