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Was Online-Dating mit unseren Beziehungen macht

Neue Kommunikationstechnologien: Werden unsere Beziehungen weniger intim und mehr öffentlich?
Neue Kommunikationstechnologien: Werden unsere Beziehungen weniger intim und mehr öffentlich? © dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Von Lydia Heller und Tim Wiese · 23.07.2015
Smartphones, Chatforen, Soziale Netzwerke und andere neue Kommunikationstechnologien verändern unsere Vorstellungen von Liebe, Romantik und Sex.
Smartphones, Chatforen, Soziale Netzwerke und andere neue Kommunikationstechnologien verändern unsere Vorstellungen von Liebe, Romantik und Sex. Sie beeinflussen, wie, wo und welche Menschen sich kennenlernen, wie sie Beziehungen eingehen, führen und beenden. Das Internet rangiert Soziologen zufolge dabei als Weg oder Ort, über den Menschen einen Partner finden, inzwischen auf Rang drei - gleich nach Treffen auf Partys gemeinsamer Freunde, in Bars und Clubs oder anderen öffentlichen Plätzen.
Nach Älteren, Schwulen, Lesben oder Menschen in dünnbesiedelten Regionen trifft sich heute auch ein gutes Fünftel aller "klassischen" heterosexuellen Paare online. Es gibt Cybersexspielzeuge, die Sex simulieren, indem sie Bewegungen zweier Menschen an verschiedenen Orten auf das Gerät des Partners übertragen. Es gibt Sextoy-Apps wie bang with friends, über die man seine Facebook-Freunde zum One Night Stand einladen kann. Und es gibt Dating-Apps wie Tinder und Lovoo, die fast jeder Unter-30-Jährige auf seinem Handy hat.
Kritiker warnten vor diesem Hintergrund noch vor einigen Jahren vor allgemeiner Vereinsamung durch "Phantom-Kommunikation". Echte Nähe, Gefühle und Intimität, so die Befürchtung, würden erschwert oder sogar verhindert. Freundschaft, Liebe und Begehren würden nur suggeriert - eine echte, ausdauernde Auseinandersetzung mit einem anderen Menschen, mit seiner Gegenwart und Körperlichkeit aber nicht eingefordert. Inzwischen weiß man: Digitales Zusammensein via SMS, E-Mails und Messages kann die Entstehung von Intimität sogar befördern. Paare in Fernbeziehungen etwa, die via Smartphone eine kontinuierliche Kommunikation unterhalten, empfinden ihre Beziehung als sicherer und gefestigter als Paare mit weniger Online-Kommunikation. Und für Digital Natives ist Online-Kommunikation längst Teil gewöhnlicher Beziehungsarbeit.
Wie genau verändern sie unsere Vorstellungen von und Erwartungen an Liebe, Romantik und Sex? Gibt es neue Formen von Intimität? Können sie technisch gesteuert/ manipuliert werden? Und: Werden eigentlich unsere Beziehungen weniger intim und mehr öffentlich - oder wird die öffentliche Kommunikation intimer?

Der Beitrag im Wortlaut:
Lydia Heller: "Millionen Leute in deiner Nähe - Worauf wartest du?"
Tim Wiese: "Ja, worauf wartest du?"
Heller: "So jetzt muss ich mich aber registrieren, wahrscheinlich. Wir brauchen dein Foto, deinen Namen und dein Alter. Ja, Foto hatten wir ja schon.."
Da sitzen wir. Aufgeregt wie Teenager vor dem ersten Date. Starten einen Selbstversuch.
Heller: "Ok, Profilfoto wird gesendet. Oh Gott ... ganz ehrlich, ich fühle mich nicht richtig wohl."
Als Möglichkeit, andere Menschen kennenzulernen oder einen Partner zu finden, rangiert das Internet mittlerweile an dritter Stelle. Gleich nach Clubs, Bars, Kneipen und anderen öffentlichen Plätzen. Ein Drittel der Paare in den USA, die zwischen 2005 und 2012 geheiratet haben, hatte sich online kennengelernt.
Anne: "Vor nem Jahr war das noch so: Nein, das hast Du doch gar nicht nötig!"
Andreas: "Inzwischen ist das ja so etabliert, dieses Dating, dass man da auch nicht mehr rumdruckst und sagt: ist ja schon ein bisschen peinlich oder so. Sondern das ist für alle Beteiligten normal."
Wie es ist, auf Partys zu gehen, dort zu flirten und nach jemandem Ausschau zu halten – jemanden anzusprechen oder selbst umworben zu werden: das wissen wir. Wir haben oder hatten Beziehungen, wir kennen die Codes. Die der Offline-Welt jedenfalls. Aber: gelten die noch? Oder ist es wirklich etwas anderes, wenn man sich im Internet trifft? Über eine Handy-App zum Beispiel?
Ich habe mich bei Lovoo angemeldet. Eine App, die mir auf einem Radar Leute in unmittelbarer Nähe präsentiert. Mit Angabe der Entfernung, in der sich diejenigen gerade zu mir befinden. Interessiert mich eine dieser Personen, kann ich ihr eine Nachricht schreiben.
Tim Wiese: "Also schreibe ich jetzt hier erst einmal rein: Hallo zusammen, ich bin Journalist und suche für ein Stück Leute, die mit mir ihre Tinder Erfahrungen teilen wollen."
Tim hat sich für die US-amerikanische Plattform Tinder entschieden. Hier wischt sich der Nutzer durch die Profilfotos von Leuten aus der näheren Umgebung.
Wiese: "Durch Antippen des grünen Herz zeigst du an, dass dir die Person gefällt. Like! Dann kommt da der große Like-Stempel."
Heller: "Du kriegst einen Stempel: ‚Like' oder ‚Nope'. Abstempeln ist das."
Wiese: "Na gut, kann man zumindest abends mal auf dem Sofa sitzen und sich durchklicken."
Wenn auch ein anderer Nutzer einen attraktiv findet, kann man in Kontakt miteinander treten. Man bewertet also nicht nur andere, man muss sich auch bewerten lassen.
Wiese: "Man geht hier durch die Bilder durch und sagt ‚Ja', ‚Nein', ‚Ja', ‚Nein' ... Also, sinnlich ist das jetzt nicht. Das ist wie Shopping oder sowas. Bist du jetzt eigentlich da aufgeregt ein bisschen?"
Heller: "Ja, schon, weil ich ja nicht weiß, was daraus wird, wenn man sich da anmeldet."
Die Frage, inwiefern neue Technologien bedrohlich sein könnten – für Beziehungen, gerade auch für Sexualität und Intimität – beschäftigt Soziologen nicht erst, seit es das Internet gibt. Schon die Antibabypille oder Methoden der künstlichen Befruchtung riefen Kritiker auf den Plan, die vor dem Verfall von Sitten, Anstand und Moral warnten. Ein paar Jahre zuvor wurde sogar die Verbreitung von Autos und Autokinos beargwöhnt: Als Orte, die Jugendliche dazu verführten, "einfach nur" Sex zu haben.
Jetzt ist es das Internet, das Liebesbeziehungen zu gefährden scheint: Wie intensiv und wie dauerhaft eine Liebesbeziehung ist – so fanden jüngst Kommunikationswissenschaftler der Michigan State University heraus – das hängt auch davon ab, ob sich die Partner zuerst im Internet oder im sogenannten "realen Leben" kennengelernt haben. War der erste Kontakt digital, folgte daraus seltener eine Ehe als bei Leuten, die sich traditionell offline begegnet waren. Und: Paare, die sich zuerst im Netz getroffen hatten – egal ob verheiratet oder nicht – trennten sich später häufiger.
Datingverhalten homosexueller Männer
Treffen mit dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker. Internetsexualität ist sein Forschungsschwerpunkt. Unter anderem hat er im Rahmen einer großen Studie rund 19.000 homo- und bisexuelle Männer zu ihrem Datingverhalten im Netz befragt. Im Café um uns herum sind einige Leute in ihre Smartphones vertieft. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass ein junger Mann am Nebentisch in einer Flirt-App die Profile junger Frauen studiert.
Dannecker: "Das hat eine neue Qualität. Wenn man das Café als potentiellen Raum dafür nimmt, für Anziehung. In den jüngeren Generationen wird etwas von dieser Aufmerksamkeit, auch von der sexuellen und Beziehungsaufmerksamkeit, die in diesen Räumen repräsentiert war, abgezogen. Weil immer wieder, was wirklich häufig zu beobachten ist, der Blick reingeht in diese Medien, auf irgendwelche Portale."
Wiese: "Das bedeutet ja aber auch, dass es einen ganz anderen Wettbewerb gibt. Früher musste ich nur hier im Café hervorstechen, um meinen potentiellen Flirt zwei Tische weiter von mir zu überzeugen. Heute konkurriere ich über diese Apps mit der ganzen Welt."
Dannecker: "Es konkurrieren alle mit allen und man muss sowohl seine Persönlichkeit als auch seine Sexualität in einer bestimmten warenförmigen Weise darstellen, weil man ja Interesse hervorrufen muss. Dazu taugen unter anderem Bilder. Wo man sich bestimmt interessant macht und es hat wirklich damit zu tun: Wir werden zu Gefühlsunternehmern in diesem Raum, da beißt keine Maus keinen Faden ab, so ist das."
Anne: "Da sucht man sich schon ein Foto aus, wo man gut aussieht. Aber ich ..hab einfach versucht, dass ich freundlich aussehe, schlank aussehe, die Augen gut zur Geltung kommen, sowas. Wo ich mich mag und wo man mich auch erkennt."
Andreas: "Beispielsweise bei den Fotos: man macht sich Gedanken darüber, über die Inszenierung. ..Also bei den Frauen, manche wollen wahnsinnig originell rüberkommen. Weil die wahrscheinlich erkannt haben: irgendwie muss man auffallen. Das ist so ein Wettbewerb auch: Wer bringt's am originellsten."
Die Freiheit, sich zu verlieben, war kaum jemals größer als heute. Anders als noch im 18. Jahrhundert müssen wir nicht heiraten, weil die Mitgift hoch ist. Weil der Hof erhalten werden muss. Oder ein passender Firmen-Erbe her muss. Statt für die gute Partie entscheiden wir uns heute für das große Gefühl – über alle sozialen, geographischen und Geschlechtergrenzen hinweg. Zumindest – glauben wir das. Aber das Ideal der romantischen Liebe ist eine Illusion.
Wir erwarten emotionale Symmetrie
Unser Gefühlsleben ist auch heute von rationalen und ökonomischen Überlegungen geprägt - schreibt die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch "Gefühle in Zeiten des Kapitalismus": Wir betrachten uns als autonome Individuen, wir haben viel Zeit darauf verwendet, herauszufinden, wer wir sind und wie wir sein wollen. Wir kennen unsere Ziele und Bedürfnisse - und erwarten emotionale Symmetrie. Was wir in eine Beziehung investieren, wollen wir zurück bekommen. Also suchen wir jemanden, der zu uns und unseren individuellen Wünschen und Plänen passt.
Kerstin: "So, hier kommt der Kuchen."
Lutz: "Hmmm. Dann werde ich mich mal um den Kaffee kümmern ... "
Zu Gast bei Kerstin und Lutz in einem kleinen Ort in Brandenburg. Seit fünf Jahren sind die beiden verheiratet. Vor sieben Jahren haben sie sich kennengelernt – online.
Lutz: "Ich hatte eine zehnjährige Partnerschaft hinter mir und ich war nicht in der Lage, in Diskotheken oder sonst wohin zu gehen. Ich hatte aber einen intensiven Hunger nach Leben und in diesem Hunger nach Leben habe ich gesagt: ‚Ich will jetzt eine neue Partnerschaft und da ist online eine gute Möglichkeit für mich'."
Er erstellte ein Profil bei einem kommerziellen Partnersuch-Portal. Seine Vorstellungen von einer neuen Partnerin waren konkret – ebenso die von Kerstin.
Kerstin: "Bei mir waren die ersten Auswahlkriterien Alter, die Größe war auch ein Kriterium für mich. Es geht auch nach den Bildern, die da in den Profilen stehen. Natürlich ist Aussehen wichtig. Der Beruf ist auch wichtig, weil man von daher ja das Bildungsniveau ableiten kann."
Lange bevor es zum ersten Treffen kommt, gleichen Online-Dating-Portale, Kennenlern- und Flirt-Apps über komplexe Filter-Algorithmen eine umfangreiche Reihe von Parametern ab: Haarfarbe und Körpergröße, Ernährungsgewohnheiten, sexuelle Vorlieben, Lieblingsfilme, -bücher und -musik, Ausbildung, Jahreseinkommen. Sie versprechen das perfekte Match. Und erstaunlich oft – lösen sie ihr Versprechen ein.
Lutz: "Da sind einfach mehr Gemeinsamkeiten vorhanden. Und das zieht sich durch die Beziehung auch durch. Also ich finde es hat uns eben schon dadurch geprägt, dass wir sehr, sehr viele Ähnlichkeiten haben, die wir so vielleicht nicht gefunden hätten."
Kerstin: "Es ist eben nicht nur die Optik, die man so in einer Bar als erstes empfinden würde, sondern auch viele innere Werte, die man so bei einem Kennenlernen erst mal nicht erkennen kann."
Kai Dröge: "Man hat sein Leben, hat Beruf, Freunde und so weiter – und möchte jetzt noch einen Partner, der da ideal rein passt. Da kann das Internet natürlich schon helfen."
Kai Dröge erforscht am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main seit einigen Jahren die Grenzen zwischen romantischer Liebe und ökonomischen Kalkül beim Online-Dating.
"Aber die Frage ist: verliebt man sich dann eigentlich? Oder ist das nicht eher sowas wie man sich für ein Auto entscheidet und überlegt: Brauch ich einen Kombi, damit mein Mountainbike da reinpasst? Oder nehme ich einen Kleinwagen, den ich besser parken kann in der Stadt?"
Messbar, rational vergleichbar
Wir werden berechenbarer, auch in der Liebe. Wenn wir ein Profil in einem Dating-Portal anlegen, zerlegen wir uns in standardisierte, einzelne Merkmale. Wir sind nicht länger eine Person in ihrer gesamten Einzigartigkeit und Besonderheit. Wir werden zum Suchobjekt, zur Ware: objektiv messbar, rational vergleichbar – bewertbar. Nur so allerdings können Matching-Algorithmen uns überhaupt wahrnehmen. Nur so werden wir im digitalen Dating-Markt auffindbar und vermittelbar. Und nur so können auch wir selbst gezielt suchen, nach jemandem, der unsere individuellen Wünsche erfüllt.
Besuch bei den Machern von Lovoo, der größten Kennenlern-App im deutschsprachigen Raum. Ein quirliges Start-Up mitten in Dresden. Im Empfangsraum weiße Ledersofas vor rot gestrichenen Wänden, auf den Fluren hip gekleidete Menschen mit Mateteeflaschen. Sie verschwinden in Großraumbüros hinter Glastüren mit der Aufschrift: We design love.
Benjamin Bak: "Wir haben mal die Daten sprechen lassen, was machen unsere Nutzer eigentlich – und haben festgestellt, dass es Cluster gibt, die sich füreinander interessieren. ..Dass einfach ein Interessen-Matching die Wahrscheinlichkeit um bis aufs Dreifache erhöht, dass eine Konversation funktioniert."
Benjamin Bak hat vor drei Jahren Lovoo gegründet. Heute hat die App 16 Millionen Nutzer, Tendenz steigend.
"Daraufhin haben wir angefangen, einen Algorithmus zu entwickeln, der die passenden Nutzer auch zuallererst anzeigt. Wenn jetzt jemand ist, der ist direkt in meiner Umgebung und wir wissen aus unseren Daten her: okay, da könnte es ein Match geben, dann zeigen wir den prominenter an als jemanden, wo unsere Daten sagen: mit dem würde wahrscheinlich keine Unterhaltung zustande kommen. ..Wir sehen dadurch die Möglichkeit, dass sich da noch bessere Pärchen oder bessere Freundschaften entwickeln, als wenn man das ganz dem Zufall überlässt."
In der virtuellen Bar – als die Lovoo sich versteht – ist der Matching-Algorithmus der Türsteher. Je größer die Anzahl der Felder, in denen Angebot und Nachfrage übereinstimmt, desto größer ist die Chance, eintreten zu dürfen und mit einem Match bekannt gemacht zu werden. Anders als es dem romantischen Liebesideal entspricht, reproduzieren Flirt-Apps und Partnerschaftsportale überwunden geglaubte Suchmuster. Zementieren Grenzen zwischen sozialen Schichten. Kornelia Hahn, Soziologin an der Universität Salzburg:
"Im Internet werden Statusbeziehungen weitergeführt, als dass die Partnerschaftsportale die Möglichkeit zulassen, dass man etwa den Beruf angibt, dass man die Ausbildung angibt. Auch bis dahin, dass man das Einkommen, das man zur Verfügung hat, angibt. Und dass die Partnerschaftsportale, die Matchingpartner vorschlagen, da auf Statusgleichheit achten."
Je genauer wir uns und unsere Wünsche beschreiben, je länger wir die Apps nutzen, desto genauer werden zudem die Vorschläge, die der Algorithmus generiert. Der noch bessere Partner, die noch bessere Freundschaft wartet immer in der Zukunft. Und je höher die Anzahl der Leute, mit denen wir "matchen" – je mehr Kontakte und "Likes" wir sammeln, desto höher steigt unser Wert auf dem Dating-Markt.
Samstagabend. Wir sitzen in einem Club und beobachten tanzende und flirtende Menschen. Hier wird noch direkt miteinander angebändelt. Oder?
Nicht nur. Viele checken immer wieder ihre Smartphones. Fast alle, die wir fragen, haben Dating-Apps installiert. Die Männer etwas häufiger als die Frauen. Jan zum Beispiel:
"Also ich nutze Friendscout, Badoo, Lovoo, Voo, Spotit, Tinder ..."
Reporter: "Wenn du dir die Bilder von potentiellen Partnerinnen anschaust. Wie entscheidest du, mit wem du in Kontakt kommen willst. Also welche Profile du likest?"
Jan: "Also ich entscheide gar nicht. Ich like alles und selektiere später. ..Das geht viel schneller, wenn man einfach nur ‚Ja' klickt. Und wenn es dann zum ‚Match' kommt, kann man das Ganze noch rückgängig machen."
Reporter: "Also erstmal weit streuen, in der Hoffnung, dass irgendwo ein Stein einschlägt."
Jan: "Ja, genau!"
Hier im Club wahllos jede Frau direkt ansprechen: unvorstellbar. In den digitalen Bars – bei Lovoo, Tinder, Okcupid, Grindr oder einer der anderen unzähligen Dating-Apps – ist die Scheu weitaus geringer.
Andreas: "Da kannste die schönste Frau anlabern, das trauste dich draußen nicht. Also, die Killerbraut, der kannst ein Hallöchen flöten. Kriegste halt genauso wenig eine Antwort wie in der freien Wildbahn. Aber zumindest traust du dich das. Scheißegal."
Durch Kommunikation auf Distanz entsteht Intimität
Auch Tim und ich tauschen über unsere Flirt-Apps Nachrichten mit anderen aus. Wenn uns die Profile gefallen. Schreibt uns jemand an, fühlen wir uns wirklich gemeint. Manchmal schauen wir zwar tatsächlich nur, wie viele Leute uns "geliked" haben, wie viele Matches es gab. Registrieren leichten Unmut, wenn es weniger sind als am Vortag.
Dannecker: "Am Anfang ist man noch so überwältigt: Man könnte mit der eigenen Persönlichkeit die halbe Welt umspannen. Das hat eine reale Entsprechung, weil zu jeder Tages- und Nachtzeit auf diesen Portalen unendlich viele Menschen sind, die irgendetwas wollen, was man auch will. ..Das ist auch ein narzisstischer Triumph: Ich bin begehrt. Über das Interesse, was andere an einem ausdrücken, fühlt man sich bestätigt. Das kennt man aus der Realität auch, nur: da kann man nicht zwanzig anklicken, in einer Zeiteinheit. Oder auf drei Portalen verkehren. .Insofern kommt es zu einer narzisstischen Expansion, die verständlich ist."
Skypechat mit Tim. Zweischenbilanz.
Tim: "Hallo!"
Lydia (über Skype): "Hallo Guten Morgen, hier ist Lydia."
Tim: "Na, wie sieht es aus?"
Lydia: "Ja, also Bilanz nach zwei Wochen ist gar nicht so schlecht. Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass so viele Leute da schreiben. Und das ganze Spektrum ist abgedeckt. Von 'Hallo, lieb rüber wink aus Niederschönhausen' - wo man gleich denkt: 'Oh Gott, vielen Dank!' - bis hin zu mitten in der Nacht: 'Hello green eyes! I'm a bit horny. Wollen wir chatten?'. Und zu merken, dass einen da Leute anschreiben, dass fühlt sich zum Teil ganz gut an. Von ganz heiß bis hin zu total abstoßend eigentlich alles dabei."
Tim: "Da habe ich auch das Gefühl, dass Männer relativ schnell explizit werden. Ich schreibe ja mit Männern und Frauen. Und Männer werden relativ schnell explizit. Und Frauen, die sind doch sehr zurückhaltend und ich habe auch das Gefühl, dass ich als Mann immer den ersten Schritt machen muss."
Lydia: "Ich glaube, ich habe auch eher weniger zuerst geschrieben. Ich treffe mich jetzt auch mit jemanden sogar."
Wenn wir jemanden über das Internet kennenlernen - schreibt Eva Illouz in ihrem Buch "Warum Liebe weh tut" - dann tauschen wir dabei eine enorme Menge textbasierter, entkörperlichter Informationen übereinander aus. Romantik und Intimität aber seien an körperlich-sinnliche Nähe gebunden – und deshalb unter diesen Bedingungen immer schwerer herzustellen.
Der Soziologin Kornelia Hahn zufolge ermöglicht jedoch gerade die Kommunikation auf Distanz das Entstehen von Intimität.
"Romantik lebt sehr stark vom Gespräch, auch von der Interpretation. Man stellt dem anderen dar, was man empfindet, mit Worten oder mit anderen Zeichen. Gerade das Interpretieren von E-Mails, SMS oder auch dass man Fotos schickt – diese Interpretationsleistung, die überhaupt erst zu Intimität führen kann, die kann durch neue Medien sogar noch stärker herausgespielt werden für das einzelne Paar."
Anne: "Wahrscheinlich bin ich da mutiger."
Andreas: "Ich glaub, das geht vielen Leuten so. ...Dass Du über so ein Online-Ding eher Dinge ansprechen kannst als verbal, da ist man gehemmt oder so. .. Eine Frau .. die hat mir auch Nacktbilder geschickt, ..das war schon heiß. ..Die hat halt deutlich gemacht, ihr kann man wirklich jede Frage stellen. Da hab ich schon die Sau rausgelassen, irgendwie. Wie man das vielleicht höchstens sich traut, wenn man alkoholisiert ist. ... Aber während wir geschrieben haben, war das schon so, dass man sich dachte: Wow, das muss man jetzt irgendwie fortsetzen."
Dann trifft man sich.
Andreas: "Beim ersten Mal ist man noch total geflasht, wie es eigentlich sein kann, dass es hier wirklich so gut funktioniert zwischen uns. Und beim zweiten Mal ..stellt sich dann oft so eine Langeweile ein. .. Dann muss man sich bewähren, ob man sich auch wirklich was zu sagen hat. Das ist dann seltenst der Fall."
Anne: "Bis jetzt verlief das dann immer so: nach dem dritten, vierten Treffen hat man sich kiffend auf der Couch vorm Fernseher wiedergefunden. Und dann irgendwann Sex gehabt. Also bis jetzt war da nun noch nicht der Oberflieger, wie sich alle immer vorstellen, ja?"
Auch, wenn es vordergründig um Beziehungen geht: Auf Online-Dating-Portalen wird immer auch über Sex gesprochen. Wir tauschen Fantasien aus, viel früher und expliziter, als wir es in einer Bar, in einem Club tun würden. In dem Moment aber, wo wir Fantasien versprachlichen, werden sie zu Wünschen. Und Wünsche wollen realisiert werden.
Dannecker: "Das ist ein Gesetz der Internetkommunikation und hat mit Nähe bei gleichzeitiger Ferne zu tun. Ferne kann ja eine größere Nähe herstellen, paradoxerweise, weil wir keine Angst vor Nähe haben müssen. Weil die reale Person ja nur virtuell anwesend ist. Das ist, glaub ich, wirklich einer der basalen Gründe, warum es diese Dynamik gibt, die wir sonst nicht kennen."
Die Rolle des überpotenten Machos
Aber: Nur, weil wir online schamloser kommunizieren, werden wir bei realen Begegnungen noch nicht zu schamlosen Personen. Das liegt nicht etwa daran, dass wir online nur eine Rolle spielen. Zum Beispiel die des überpotenten Machos. Im Gegenteil: Der virtuelle Raum ermöglicht uns, bestimmte Rollen nicht spielen zu müssen – in die wir in der Gegenwart eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenübers fallen. Denn dann tauchen Konflikte und Schuldgefühle auf, die online aufgehoben werden. So der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker.
"Einer der Geniestreiche bei der Internet-Kommunikation ist ja der Nickname. Darüber kann man das klarmachen: Das ist nicht der Name, mit dem ich angerufen werde. In diesem Namen, mit dem ich angerufen werde, ist meine ganze Geschichte enthalten. Wenn jemand sagt: ‚Also Martin!', dann ist die frühe Stimme des Verbotes in diesem Namen enthalten. Wenn ich mit einem Nickname auftrete, bin ich auf der Ebene nicht ansprechbar. ..Wir haben in der Realität stärker Angst, dass wir beschämt werden – über körperliche Reaktionen, manchmal Sprache – das sind ja die frühen Erfahrungen, die wir haben: die Mütter und die Väter, die reagieren mit einem traurigen Blick, mit einer hochgezogenen Augenbraue. Das haben wir erlebt und wenn wir körperlich interagieren, dann ist das alles präsent."
Andreas: "Bei einer war das wirklich ganz extrem, wo ich dachte: Oh nee – das Treffen ist ja wirklich völlig für'n Arsch. Das war ein wahnsinnig langweiliger Abend."
Anne: "Ich hab auch gemerkt, wenn ich bei einem Date war und das war nicht schlecht, aber es war auch nicht so, dass die große Liebe ausgebrochen ist – dass man dann wieder an diesen Scheißcomputer geht und wieder kuckt, ob nicht noch jemand anders geschrieben hat, ja?"
Andreas: "Das ist ja - unbegrenzte Möglichkeiten. Lauter Versprechungen."
Anne: "Man wird fast süchtig davon, ja? Man verfällt dem auch."
Tim: "Lass uns doch noch mal in dein Postfach in der App gucken. Hast du neue Nachrichten bekommen?"
Lydia: "Ja, warte mal. Also HonestGent15 aus London. 'Do you know that you are sexy as hell'. Und ich gucke noch mal irgendwie ... Und ..."
Tim: "Was jetzt?"
Lydia: "Also ich habe mich ja vor zwei Wochen mit jemanden getroffen, ganz spontan. Irgendwann später hat er sein Profil gelöscht. Und jetzt habe ich gerade gesehen, dass der sein Profil wieder aktiviert hat."
Tim: "Und das schockiert dich?"
Lydia: "Ich bin gerade echt, wirklich, richtig, total getroffen."
Tim: "Aber das ist doch erstaunlich, wie nahm na sich kommt, wie schnell einen das reinzieht. Gut, ihr habt euch jetzt einmal getroffen, aber sonst nur ein paar Nachrichten ausgetauscht."
Lydia: "Es entbehrt auch jeder Grundlage und ich wundere mich gerade selber darüber, wie richtig ...Scheiße ich das gerade finde. Ich bin richtig traurig. Ich bin echt richtig getroffen."
Anne: "Ja! Das stimmt. Also mit dem, mit dem ich mich seit zwei Monaten treffe – wenn ich da online war und mal kurz geguckt hab, war der immer online, ja? Wo dann auch bei mir die Lust vergangen ist. Weil das so austauschbar war, alles. ..Diese Seite ist ja zum Chatten und Frauen kennenlernen da! Was macht der da? Ich meine, obwohl ich ja selber dreimal am Tag da gekuckt habe. Dann habe ich da echt mich ertappt, dass ich da alle halbe Stunde reingegangen bin und gekuckt habe, ob der noch online ist, ja? Total ätzend!"
Dannecker: "Das ist dann ein Stück weit auch Kränkung. Aber es zeigt wieder ganz stark, wie schnell das, was wir auch in der sogenannten Realität mit Beziehungen verbinden, wie schnell das auch im Internet auftaucht. Also mit all diesen Gefühlen, die auch für die Realität gelten, wie schnell das da ist . ..Dass man sich da auch wirklich narzisstische Befriedigung abholt und – weil man getröstet werden kann, über diese narzisstische Befriedigung, kann man natürlich, das ist immer die andere Seite, auch ganz schnell enttäuscht werden."
Austauschbarkeit, Kränkungen und viel Sex
Mehr als in anderen Epochen lieben wir heute narzisstischer. Unsere Partner sollen immer auch uns selbst spiegeln. Uns in unserer Autonomie und Individualität bestätigen. Dating-Apps und -Portale sind dabei viel mehr als nur das Versprechen, dass wir auch genau diesen Menschen finden können. Sie werden zugleich zum permanenten Vorwurf in dem Fall, dass es nicht perfekt läuft. Das nächste, noch bessere Match ist schließlich nur einen Klick entfernt.
Hahn: "Natürlich kann das bestehende Beziehungen destabilisieren. Die eigene Beziehung immer im Lichte der anderen Möglichkeiten zu interpretieren ist natürlich eine permanente und sehr große Belastungssituation für Beziehungen."
Dröge: "Und da ist sicherlich eine gewisse Gefahr, dass mit der Zeit unsere Fähigkeit, uns überhaupt noch an eine Person zu binden, darunter leidet. ..Dazu verführt natürlich das Netz, weil man diese endlose Auswahl hat, sich letzten Endes überhaupt an niemanden zu binden, sondern mit ganz vielen parallel dieses Spiel zu spielen. ..Und das ist das Gegenteil von dem, wie wir uns verlieben. Eben dadurch, dass uns eine Person wirklich besonders berührt."
Die suchen wir aber trotzdem nach wie vor. Und zwar auch über Dating-Portale und Apps. Denn ebenso sehr wie diese uns zur Ware machen und die Partnersuche rationalisieren und ökonomisieren - so sehr tragen sie zugleich dazu bei, dass wir dem romantischen Ideal von der großen und einzigen Liebe immer wieder auf's Neue nachlaufen. Wer sagt denn, dass mit dem nächsten Match nicht doch, endlich, die Liebesgeschichte unseres Lebens beginnt?
Lutz: "Wir haben uns überhaupt nur kennengelernt, weil du dein Profil verändert hast. Eines Tages hattest du die Intuition, jetzt den Alterskreis auch mal ein bisschen größer.."
Kerstin: "Ich hatte immer so acht Jahre.."
Lutz: "..und dann hast du es auf zehn Jahre erweitert und dadurch gab es überhaupt ein Bling, dass wir uns überhaupt kennengelernt haben. Und ich bin ja der Meinung, das wurde gesteuert von oben!"
Hahn: "In unserer Forschung sieht es im Prinzip so aus, dass obwohl die Leute Suchstrategien entwickeln, sie am Ende erklären, das Netz hat uns irgendwie zusammengefügt. Heißt also für mich diese Mystifizierung, dieses Schicksalshafte, dieses quasi klassische Konzept der Romantik wird der formalen Suchstrategie, die stattgefunden hat, quasi übergestülpt."
Liebe im Netz ist hoffnungslos romantisch. Trotz - oder vielleicht gerade wegen - der Schnelllebigkeit, der Austauschbarkeit, der Kränkungen und der Eifersucht. Und dem vielen Sex.
Dannecker: "Wir müssen lieben. Diese Sehnsucht ist den Menschen nicht auszutreiben. Einfach deshalb, weil unsere frühe Erfahrung als Mensch mit Liebe und mit Sinnlichkeit begonnen hat. Und es kann sein, dass weil diese virtuellen Möglichkeiten einen so verführen können, dass es eine ganze Zeit dauert, bis diese Sehnsucht wieder auftaucht. Aber sie taucht auf. Und außerdem haben sich viele Menschen, die sich nur zur Sexualität sehen wollten, verliebt. Das ist eine besonders befriedigende Sexualität und die macht einen Wiederholungswunsch. Und der Wiederholungswunsch kann der Beginn einer tiefen und langen Beziehung sein."
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