"Wir beobachten immer mehr Gewalt"

Georg Pieper im Gespräch mit Ulrike Timm · 02.01.2013
Diebstähle, Aggressionen, Panikattacken - die Wirtschaftskrise in Griechenland hat konkrete Folgen für das individuelle Befinden und das tägliche Miteinander. Auch die Selbstmordrate ist seit Ausbruch der Krise deutlich gestiegen. Vor allem die Männer leiden, sagt der Trauma-Experte Georg Pieper.
Ulrike Timm: In Griechenland geht die Wirtschafts- und Staatskrise ins fünfte Jahr. Um etwa 20 Prozent ist die Wirtschaftskraft inzwischen geschrumpft, und fast zwei Drittel aller jungen Leute unter 25 finden keine Arbeit, und die Reeder und die wohlhabenden Familien zahlen trotzdem keine Steuern. Dass sich aber kein Licht am Horizont auftut, dass immer noch weiter gekürzt wird bei Renten und Gehältern, ohne dass sichtbar wird, dass die Opfer etwas nützen, das ist womöglich am schwersten zu verkraften. In diesem Sinne ist der Psychologe und Traumatherapeut Georg Pieper in Griechenland gewesen, um aus der Sicht seines Faches zu sehen, was so etwas Abstraktes wie "Krise" konkret mit Menschen macht. Und darüber sprechen wir jetzt – Herr Pieper, schönen guten Tag!

Georg Pieper: Schönen guten Tag!

Timm: Was ist Ihnen denn am eindrücklichsten gewesen?

Pieper: Ja, die Griechen, die ich getroffen habe, waren doch weitaus weniger locker und fröhlich, als ich das normalerweise gewohnt bin, und ich hatte so den Eindruck, die sind jetzt wirklich voll in der Krise angekommen und haben das ganze Ausmaß wirklich jetzt erst richtig begriffen. Es wurde längere Zeit so verdrängt – die sagten, so vor einem Jahr haben wir das noch gar nicht so wahrhaben wollen, aber jetzt stecken wir mitten drin –, und es hat sich eine große Hoffnungslosigkeit verbreitet.

Timm: Wie äußert sich das?

Pieper: Ich habe ja mit griechischen Kollegen gearbeitet, also mit Psychotherapeuten und mit Ärzten, die mir erst mal eben schilderten, wie schwer die Arbeitsbedingungen auch für sie sind, obwohl es ihnen noch relativ gut geht, verglichen mit vielen anderen in der Bevölkerung. Aber sie haben Einnahmeeinbußen von 50 Prozent hinnehmen müssen, und sie sind damit konfrontiert, dass sie sehr viele Patienten haben, die sehr leiden, aber die kein Geld haben, um diese Behandlungen zu bezahlen. Und das macht natürlich den Kollegen auch große Schwierigkeiten, weil sie nicht wissen, so richtig, wie können sie damit umgehen.

Timm: Ich war ein bisschen erstaunt, Sie haben als Traumatherapeut bei vielen akuten Katastrophenbetroffenen geholfen: beim Amoklauf in Erfurt im Gutenberg-Gymnasium, beim ICE-Unglück in Eschede – alles schreckliche Ereignisse, die von jetzt auf gleich passierten und die im Grunde unfassbar sind. Kann man fünf Jahre Wirtschaftskrise wirklich mit solchen Traumen vergleichen, wie es die eben genannten sind, mit Naturkatastrophen oder auch der Vergewaltigung einer einzelnen Frau, also Dingen, die sehr plötzlich geschehen? Kann man das mit fünf Jahren Krise wirklich vergleichen?

Pieper: Nein, es sind schon deutliche Unterschiede, und im klassischen Sinne können wir bei diesen Belastungen, denen die Griechen jetzt ausgesetzt sind, auch nicht von einem Trauma reden, weil bei diesem Begriff Trauma gehen wir davon aus, dass das körperliche Leben bedroht ist und dass man mit dem Thema Tod konfrontiert wird. Aber die Lage hat sich inzwischen so zugespitzt – in Athen vor allen Dingen –, dass man doch immer wieder auch von richtig schweren existenziellen Bedrohungen sprechen muss. Die Suizidrate zum Beispiel hat sich ja extrem erhöht, und die allgemeinen Verhältnisse sind so schlimm geworden – wir beobachten immer mehr Gewalt und Überfälle in der Gesellschaft, dass da tatsächlich viele Traumatisierungen auch geschehen.

Timm: Können Sie uns eine beispielhafte, spezielle Geschichte aus den allgemeinen Verhältnissen herausgreifen?

Pieper: Ja, es gibt da also wirklich unzählige Geschichten, die mich sehr beeindruckt haben, was ich früher auch also gar nicht so glauben konnte, und nicht glauben wollte. Zum Beispiel ist es so, dass jetzt die kalte Jahreszeit ja auch in Griechenland kommt. Und es gibt viele Haushalte, die haben kein Geld mehr, das Heizöl zu bezahlen, und die sitzen frierend in ihren Wohnungen und haben sich dann irgendwelche kleinen Bolleröfchen besorgt, die sie mit Holz beheizen. Das Holz, das schlagen sie sich illegal in den Wäldern oder sie verbrennen irgendwelche alten lackierten Holzstücke. Das Ganze ist erstens mal gefährlich, weil: es kann leicht zu Bränden kommen – es ist natürlich eine Katastrophe auch für die Umwelt. Das ist auch eine Geschichte, wo mir klar wurde, wie weit diese Krise jetzt gegriffen hat.

Eine andere ist die: Eine Kollegin erzählte mir jetzt über Weihnachten, sie war ein kaufen und hat sich noch mal es geleistet, einen Einkaufskorb wirklich vollzuladen, obwohl sie auch kaum noch Geld dafür hatte. Und sie geht ins Parkhaus, stellt die Tüte kurz ab und geht auf die andere Seite vom Auto, und da war die Tüte weg. Und das, sagte sie, ist kein Einzelfall, es passiert also wirklich immer häufiger, dass Menschen, weil sie nichts mehr haben, sich gegenseitig das Essen klauen.

Timm: Also wir reden über Armut und Anarchie und nicht mehr über was Abstraktes wie Wirtschaftskrise.

Pieper: Genau, wir reden darüber, dass es den einzelnen Menschen ganz, ganz schlecht geht, dass sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien versorgen können, wie sie das Essen auf den Tisch bringen. Und wenn die Ressourcen so knapp werden, wenn man kein Geld mehr hat, dann werden die Menschen natürlich zu Egoisten, und jeder versucht, seine Familie noch zu retten, und dann kommt es zwangsläufig auch zu solchen Übergriffen oder eben, dass man sich die Dinge von anderen wegnimmt. Es wurde schon darüber berichtet, dass zum Beispiel auch Tiere gestohlen werden, die dann – also auf den Inseln ist das dann – die dann geschlachtet werden. Und man sieht also wirklich die blanke Not, die regiert.

Timm: Sagt uns der Psychotherapeut Georg Pieper, der in Griechenland war, um Traumatherapeuten zu schulen, hier im Deutschlandradio Kultur im "Radiofeuilleton". Herr Pieper, Sie sagen, die Wirtschaftskrise sei auch und vor allem eine Krise der Männlichkeit. Wie das?

Pieper: Meine Kollegen erzählten mir, dass sie also viel mehr männliche Patienten jetzt sehen, die schwere Angsterkrankungen haben, Panikstörungen, Depressionen, und das ist darauf zurückzuführen, dass die Männer sich eben hauptsächlich über ihre Rolle als Ernährer der Familie definieren und dort ihr Selbstwertgefühl her bezogen haben. Und wenn sie jetzt das erleben müssen, dass ihre Arbeit nichts mehr wert ist, dass sie sich abrackern und schuften, und sie haben trotzdem zu wenig Geld, um ihre Familie zu ernähren, oder dass sie sogar ihre Arbeit ganz verlieren, dann fallen sie in ein tiefes Loch, sie haben dem nichts mehr entgegenzusetzen.

Frauen, interessanterweise, sind eher in der Lage, verschiedene Rollen auch auszufüllen, sie sind eher dazu fähig, zum Beispiel dann für die Kinder zu sorgen, gemeinsam auch danach sich zusammen zu tun mit anderen Frauen, danach zu schauen, wo gibt es andere Möglichkeiten, noch irgendwie die Mutterrolle auszuüben. Frauen sind wesentlich flexibler als die Männer, und bei den Männern kommt dann erschwerend häufig noch dazu, dass sie also dadurch so sehr ihr Selbstbewusstsein verlieren, dass sie dann zu anderen Mitteln greifen, zum Beispiel aggressiv werden. Aggression ist ein hauptsächlich männliches Phänomen, dass sie gewalttätig werden gegen andere. Ein ganz bekanntes Problem kommt für viele Männer dazu, dass sie Potenzstörungen durch diese Situation erleben, und das macht sie noch verzweifelter oder noch aggressiver, und sie stürzen sich zum Beispiel auch in Alkohol rein, also das ist für Männer eine richtig schwierige Situation.

Timm: Wenn eine wirtschaftlich desaströse Situation Ihrer Beobachtung nach psychologisch abfärbt auf die griechische Gesellschaft, bietet diese Krise auch irgendeine Art von Chance, dass man mehr zusammenarbeitet, dass der familiäre Zusammenhalt wieder stärker wird, oder scheint sich das Wort Chance für sie von vornherein zu verbieten?

Pieper: In jeder Krise steckt eine Chance, das muss man erst mal so sehen. Ich habe ja darüber auch viele Beispiele gegeben in meinem Buch, wie man an Krisen auch wachsen kann. Aber die Situation jetzt im Moment stellt sich doch so dar, dass der Egoismus besonders Früchte treibt, und dass die Menschen in die Richtung gehen, dass sie vor allen Dingen ihre eigene Familie retten wollen. Auf der anderen Seite sehen wir kleine Initiativen, die ich von meinen Kollegen jetzt auch geschildert bekommen habe, die außerhalb der staatlichen Institutionen sich darum bemühen, sich gegenseitig zu unterstützen, die Kinder zu versorgen, Familien davor zu bewahren, dass sie aus Verzweiflung ihre Kinder in Heime geben, also die Chance, Solidarität zu erleben, die steckt in dieser Krise, aber nach meinem Eindruck sind die Menschen wirklich angespannt bis zum Ende, und ich denke, dass diese Eigenkräfte, aus der Krise sich herauszuarbeiten, nur dann geweckt werden können, wenn sie eine tatsächliche Unterstützung von uns bekommen. Und diese tatsächliche Unterstützung kann nicht darin bestehen, dass man weiterhin nur mit den Rettungsschirmen die Banken rettet.

Timm: Meint der Traumatherapeut Georg Pieper, der in Griechenland war, um Fachkollegen psychotherapeutisch zu schulen.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Buchtipp:

Georg Pieper: Überleben oder Scheitern. Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen
Knaus-Verlag, München 2012
288 Seiten, 19,99 Euro
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