Winkler fordert schnelle Hilfe für Opfer von Heimerziehung

Josef Winkler im Gespräch mit Ulrike Timm · 26.01.2009
Nach Ansicht des Grünen-Obmanns im Bundestagspetitionsausschuss, Josef Winkler, kam es bei der Heimunterbringung von Kindern und Jugendlichen in den 50er und 60er Jahren zu massiven Menschenrechtsverletzungen. Er hätte sich eine pauschale Entschädigungslösung für die Opfer gewünscht, so Winkler. Ein Runder Tisch soll nun die Aufarbeitung der Fälle vorantreiben.
Ulrike Timm: "Wenn Du nicht spurst, dann kommst Du ins Heim!" - das war bis in die 1970er Jahre hinein in den einfacheren Milieus eine gängige Drohung gegenüber Kindern. Eltern, Lehrer und Jugendfürsorge sprachen sie aus.
Dass die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren kein Zuckerschlecken war, dass eine streng disziplinierende Ordnungsvorstellung dort junge Menschen brach, ist schon länger bekannt, aber solche Erinnerungen wie hier stockend vorgetragen, die erschüttern doch sehr:

"Schuhe nicht richtig geputzt: ein Tag Dunkelhaft. Die Haare nicht richtig gekämmt: zwei Ohrfeigen. Gegen den Erzieher frech geworden: den Flur bohnern. Oder einen 27 Meter langen Flur in gebückter Haltung mit einer Zahnbürste putzen."

Ulrike Timm: Dietmar Krone erzählte das. Heute ist er Mitte 50, Heimkind war er seit dem zwölften Lebensjahr und als junger Erwachsener wurde er entlassen ohne Schulzeugnis, ohne Berufsausbildung und mit körperlichen Spätfolgen von sogenannter Erziehung, einem mehrfach gebrochenen Arm nämlich. Zwei Jahre lang befasste sich ein Bundestagspetitionsausschuss mit dem Schicksal von Heimkindern in den Nachkriegsjahren, jetzt soll ein sogenannter Runder Tisch, geleitet von Antje Vollmer, ihnen vielleicht ein bisschen Schutz und Gerechtigkeit verschaffen. Darüber sprechen wir jetzt mit Josef Winkler, er war Obmann der Grünen im Petitionsausschuss. Schönen guten Morgen!

Josef Winkler: Guten Morgen!

Timm: Herr Winkler, haben Sie von solch drakonischen Bestrafungen als gängigem Erziehungsmittel öfter gehört oder war das hier ein extremes Beispiel?

Winkler: Es ist zumindest eine Vielzahl von Einzelfällen, wir müssen leider Gottes davon ausgehen, dass es in einer Reihe von Heimen sogar die Regel war, dass solche Maßnahmen und schlimmere vorgekommen sind. Ich habe persönlich gehört von Elektroschocks, von Isolationshaft in so Karzerzellen über Tage hinweg, Wochen hinweg, über Verstöße gegen die Menschenwürde, das heißt, wenn nicht nur nicht gekämmt, dann Scheren einer Halbglatze, Schläge sowieso, Drohungen, sexueller Missbrauch, also wirklich brutale und menschenrechtswidrige Methoden, und das im Übrigen in allen Sorten von Heimen, ob die jetzt katholisch, evangelisch oder in freier Trägerschaft waren. Es ist schon schockierend gewesen für mich, was wir da in den letzten Jahren aufgearbeitet haben.

Timm: Und das kann man auch nicht mehr verstehen, wenn man sagt, die 50er Jahre hatten halt eine strengere Vorstellung von Erziehung. Herr Winkler, die gesetzliche Grundlage der Fürsorgeerziehung, die stammt aus dem Kaiserreich und hat dann sogar die Nazizeit stabil überdauert. Wann kam eigentlich ein Kind in diesen Jahren, in den 50ern und 60ern, ins Heim?

Winkler: Man muss sich vorstellen, dass also schon ein wenig über die Stränge schlagen dazu führen konnte, dass man ins Heim kam. Wenn zum Beispiel ein junges Mädchen nicht das gemacht hat, was die Eltern wollten von ihr, die Ausbildung oder so, dann konnten die sie, wenn sie nicht mehr fertig wurden mit ihr, in Anführungszeichen, "abholen lassen", und dann hatten sie das Problem los. Oder wenn ein Mädchen schwanger wurde, dann wurde sie wegen drohender sexueller oder sonstiger Verwahrlosung eingewiesen, und selbst wenn sie entbunden wurde, oft von dem Kind dann getrennt. Es waren wirklich, sobald man nicht zu 100 Prozent in die vorgegebenen Schablonen passte, war man völlig, sag ich mal, dem System ausgeliefert und hatte dann auch keine Möglichkeiten mehr, hinauszukommen bis zum 18. oder 21. Lebensjahr. Das Jugendhilfegesetz ist ja erst Anfang der 60er beschlossen worden, und dann wurde es, sage ich mal, etwas zivilisierter.

Timm: Und der Verein ehemaliger Heimkinder hat sich erstaunlicherweise erst 2004 gegründet, warum haben die Opfer so lange geschwiegen? Hatte man ihnen das Schweigen sozusagen eingeprügelt?

Winkler: Das ist das eine, und das andere ist, dass unsere Gesellschaft dieses Problem lange auch ausgeblendet hat. Wir hatten eine nicht öffentliche Sitzung, wo eine Betroffene auch mitteilte, dass sie das noch nicht mal ihrem Ehemann, ihren Kindern erzählt hatte, bis sie 60 Jahre alt geworden ist, weil sie sich so geschämt hat, weil sie immer noch dachte, sie hätte irgendetwas Schlimmes angestellt, sonst hätte dieses Land so etwas nicht mit ihr gemacht. Und man hat dort regelrechten Psychoterror ausgeübt. Und wir haben von Psychologen und Psychiatern gehört in einer anderen Sitzung, dass das ganz normal ist, dass so was über Jahrzehnte unter der Decke schlummert und dann in der neuen Lebensphase, wo man ins Alter eintritt, dann quasi eine Retraumatisierung erfolgt, alles wieder da ist, ganz frisch. Und da führt dann jede neue Veröffentlichung auch dazu, dass sie merken, dass sie eben doch nichts Schlimmes angestellt haben, sondern dass ihnen Schlimmes widerfahren ist.

Und da ist es mir auch ganz wichtig, dass wir jetzt zügig dann auch im Bundestag und in allen betroffenen Gremien schauen, wie wir da weiterkommen und ihnen helfen können.

Timm: Es ist sicher nicht so, dass das in allen Heimen gängige Praxis war, aber was mich erstaunt hat, ist das Spektrum der Opferzahlen, die man heute naturgemäß nur noch schätzen kann, aber die schwanken zwischen 15.000 und 500.000. Da hat man den Eindruck, da hat jeder seine?

Winkler: Ja, die halbe Million, das ist, sagen wir, wenn man alle Kinder nimmt, die in den 50er und 60er Jahren in Heimen waren. Nur gehe ich davon aus, nun bin ich kein Experte, aber ich sage mal meine Werte jetzt, die ich mir so aus den Schilderungen der Fachleute zusammenreime, ist, dass vielleicht in 10 bis 15 Prozent der Heime man wirklich genau hinschauen muss, da ist dann auch nicht unbedingt jedem Kind das Gleiche widerfahren.

Also ich gehe davon aus, dass am Ende, sind ja auch leider nun schon so viele Jahre ins Land gegangen, dass viele auch schon gar nicht mehr leben, dass man mit wenigen tausend Betroffenen, sag ich mal, noch rechnen muss, um die man sich noch kümmern muss, vielleicht wenige Zehntausend, aber das ist schon sehr hoch gegriffen. Insofern, wenn man, sage ich mal in Anführungszeichen, das "Worst-Case-Szenario" nimmt, dann könnten es natürlich 500.000 sein, aber ich gehe wirklich davon aus, dass es eine deutlich geringere Anzahl ist, weil natürlich eben es auch früher schon einigermaßen anständig geführte Heime gab für die damaligen Erziehungsmaßstäbe.

Timm: Also glaubwürdiger, wenn auch immer noch schlimm genug, ist, wenn man von ein paar Tausend Betroffenen ausgeht. Herr Winkler, die meisten Fürsorgeheime waren kirchlich und verstanden diese Form der Erziehung als Ausdruck "strenger Barmherzigkeit", das ist ein Luther-Wort. Wurde in den Kinderheimen im Namen Gottes geprügelt?

Winkler: Leider Gottes muss man das so sagen, es wurde ja auch religiöser Zwang ausgeübt, das heißt, auch die Nichtteilnahme am Gebet konnte zu ähnlichen Strafen führen, wie ich sie anfangs geschildert habe. Nicht überall natürlich, es gab tatsächlich auch barmherzige Heime, aber es gab auch Heime, die kirchlich geführt waren, wo man regelrechte Zwangsarbeit die Kinder und Jugendlichen hat verrichten lassen, ohne jemals dafür Geld zu bezahlen. Sogar für Industriebetriebe oder Gartenbaubetriebe in der Umgebung dieser Einrichtung.

Also gerade die Kirchen, die ja einen besonderen moralischen Anspruch haben, müssten ein großes Interesse daran haben, dass dieses finstere Kapitel aufgearbeitet wird, und dann um Vergebung bitten bei denen, denen sie Unrecht angetan haben bzw. den Ordenseinrichtungen oder den Ordensleute oder sonst wer oder Angestellte von ihnen angerichtet haben. Aber natürlich muss man auch sehen, es gab eben auch öffentlich geführte Heime, da war es mitnichten besser, zumindest in einigen von ihnen. Das ist jetzt nicht entschuldigend, immerhin galt ja auch schon das Grundgesetz mit dem Artikel 1, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Das galt aber leider für diese Kinder nicht.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Josef Winkler, Obmann der Grünen im Petitionsausschuss Heimkindererziehung über die Fürsorgeerziehung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, die bei ihren Opfern Spuren hinterlassen hat, die bis heute nachwirken. Jetzt soll ein Runder Tisch unter Leitung von der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer weiter Klarheit schaffen und sich der Opfer annehmen. Was soll denn solch ein Runder Tisch 30, 40, 50 Jahre danach konkret noch bringen?

Winkler: Zunächst hatte der Bundestag ja anerkannt, dass Unrecht geschehen ist.

Timm: Im Dezember hat man sich entschuldigt.

Winkler: Genau. Und hat das zutiefst bedauert, das Wort "Entschuldigung" war nicht, sage ich mal, einstimmig hinzubekommen, aber man hat zumindest mal festgehalten, dass das Unrecht geschehen ist und dies zutiefst bedauert. Und der zweite Schritt war, jetzt wird es aufgearbeitet, und zwar zum einen von Historikern, es gilt ja auch, die Dokumente, die noch vorhanden sind, zu sichern, es gilt zu schauen, wie war die Rechtsgrundlage, welche Hinweise gibt es über die Erfahrungsberichte der Betroffenen hinaus, dass das tatsächlich geschehen ist.

Und natürlich auch muss geklärt werden, welche Hilfsangebote kann es geben, welche Möglichkeiten von Entschädigungen gibt es, welche Möglichkeiten der psychologischen und sonstigen Hilfen können und sollten eingerichtet werden. Das muss alles dort erarbeitet werden.

Wir konnten uns im Bundestag schlicht und ergreifend nicht auf eine schnelle Lösung einigen, die da sagte, wir entschädigen sofort und pauschal, das wäre mir persönlich am liebsten gewesen, aber nun haben wir es anders beschlossen, trage ich auch mit. Wir haben gesagt, zwei Jahre lang soll das breit gefächert aufgearbeitet werden mit den Opfern und Tätergruppen, und mit der staatlichen Seite, die ja die Gesetze zu verantworten hat, soll das aufgearbeitet werden, und dann sollen Lösungsvorschläge gemacht werden. Das hat auch den Vorteil, dass wir das in diesem Jahr, das ja das Superwahljahr ist, uns nicht gegenseitig um die Ohren hauen, sondern dass das im Jahr danach hoffentlich dann auch in Ruhe jetzt gearbeitet werden kann bis dahin und dann eine Lösung vorliegt.

Timm: Starten sollte dieser Runde Tisch im Januar dieses Jahres, da hätten Sie noch eine Woche Zeit. Bislang ist noch kein konkretes Datum gefunden. Woran liegt das, warum geht das nicht los?

Winkler: Die Bundesministerin von der Leyen, die wir gebeten hatten, als Bundestag sich hier federführend für die Organisation dieses Tisches einzusetzen, hat nun, für uns überraschend, in einigen Punkten deutlich abweichend, sage ich mal, einen Vorschlag an die Bundesländer unterbreitet. Zum Beispiel hat sie gesagt, dass Entschädigungen gar nicht erörtert werden sollen, was natürlich ein harter Schlag ins Gesicht dieser Leute ist. Und sie hat auch gesagt, der Trägerverein, den der Bundestag vorgeschlagen hat, der soll es nicht machen, sondern einer, den die Heimkinder ursprünglich schon mal abgelehnt hatten, weil sie ihn für befangen hielten.

Ich hoffe, dass das noch nicht das letzte Wort ist, es ist ja in der Abstimmung jetzt mit den Bundesländern. Es kann eigentlich nicht angehen, dass man von vornherein, bevor überhaupt geklärt ist, was alles geschehen ist und wer es getan hat und auf welcher Rechtsgrundlage, schon sagt, Entschädigungen müssen ausgeschlossen sein.

Timm: Josef Winkler, Obmann der Grünen im Petitionsausschuss zu den Spätfolgen der Fürsorgeerziehung im Nachkriegsdeutschland, ich danke Ihnen, und wir werden diese Diskussion hier im "Radiofeuilleton" sicher weiter begleiten.

Links zum Thema bei dradio.de:
Hintergrund: "Wenn du nicht spurst, kommst du ins Heim!"
Späte Hilfe für westdeutsche Heimkinder (DLF)

Länderreport: ''Man wollte uns brechen'' *
Kritik: Sadistische Lust
Peter Wensierski: "Schläge im Namen des Herrn" *

Thema: Hölle Kinderheim - Peter Wensierski zeigt Leidensgeschichte von Jugendlichen in den 1950er Jahren *
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