Willkommenskultur - Teil 2

Worte wie Arsendosen

Eine Chemieglasflasche mit einem Aufkleber für "giftig" und einem Totenkopf-Symbol
Vorsicht Gift! © picture alliance / dpa - Fredrik Von Erichsen
Von Gila Lustiger · 13.01.2015
In dieser Woche stammt der "Originalton" von der Autorin Gila Lustiger. Sie lebt in Paris und hat sich bei einem Besuch in ihrer Heimatstadt Frankfurt/Main Gedanken über das Wort "Willkommenskultur" und die Macht der Wörter gemacht.
Jede Epoche hat ihre Sprache zu verantworten. Wer das 1947 erschienene Werk "LTI" von Victor Klemperer gelesen hat, der weiß, um die Macht der Wörter. Klemperer, der in seinem Werk die Sprache des Dritten Reiches durchleuchtet, enthüllt wie die Schlagwörter der NS-Herrschaft neue, unerhörte Realitäten schaffen. Endsieg, judenrein, Arisierung, Sonderbehandlung, Aktion, Selektion, Schutzhaft ... diese Worte haben nicht nur zahllose Menschen kontaminiert, sondern das Leben in Deutschland tiefgreifend verändert.
"Worte", schreibt Klemperer, "können wie winzige Arsendosen sein. Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu haben, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da."
Sprache vergiftet – Sprache tröstet
Worte können auch trösten. Jeden von uns hat sich schon einmal von Worten einhüllen lassen, jeden haben ein paar Sätze schon einmal in Begeisterung versetzt. Manchmal jedoch sind Worte von einer erschreckenden Belanglosigkeit.
Letzte Woche, als ich in Frankfurt war, hörte ich im Kaisersaal des Römers eins dieser für mich vollkommen zahmen Schlagwörter unserer Zeit. Zwei Freunde von mir erhielten eine Auszeichnung. Die Ehrenurkunde wurde von der Integrationsdezernentin der Stadt Frankfurt überreicht. In ihrer Laudatio sprach sie von der "Willkommenskultur", die meine Freunde und die anderen Preisträger mit ihrem ehrenamtlichen Engagement gefördert hätten. Willkommenskultur ...

Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, "Die Bestandsaufnahme", erschien 1995, dann 1997 "Aus einer schönen Welt". Mit "So sind wir" (2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien ihr Roman "Woran denkst Du jetzt" (2011).

Die Schriftstellerin Gila Lustiger
© dpa / Jörg Carstensen

Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten.

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