William Taubman: "Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit"

Der Mann, der die Sowjetunion auf den Kopf stellte

Cover von William Taubmans Buch, im Hintergrund: Die Kreml-Mauer mit dem Erlöserturm (l-r) und Nikolausturm und die Basilius-Kathedrale im Zentrum der russischen Hauptstadt Moskau.
Cover von William Taubmans Buch, im Hintergrund: Die Kreml-Mauer mit dem Erlöserturm (l-r) und Nikolausturm und die Basilius-Kathedrale im Zentrum der russischen Hauptstadt Moskau. © C.H. Beck Verlag/ dpa /picture-alliance
Von Jörg Himmelreich · 04.03.2018
Visionär oder naiver Idealist? Dieser und anderen Fragen geht die Biografie des Pulitzer-Preisträgers William Taubman über Michail Gorbatschow nach. Taubmans Resümee: Gorbatschow sei ein tragischer Held, der Bewunderung verdiene.
Im Urteil über Michail Gorbatschow spaltet sich die Welt bis heute. Ist er für viele im Westen der größte Staatsmann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so ist er für die meisten Russen derjenige, der die einstige sowjetische Weltmacht für immer zerstörte.
War er ein tragischer Visionär, der an den inneren Beharrungskräften der UdSSR und der KPdSU scheiterte? Oder war er der naive Idealist, der die politische Wirklichkeit und seine Gegenspieler fahrlässig ignorierte? Diesen Fragen geht die neueste, umfassend recherchierte 800-Seiten-Biographie des US-Politologen und Pulitzer-Preisträgers William Taubman über den letzten KPdSU-Generalsekretär nach.
Taubman lässt dabei auf einer Metaebene eine faszinierende Geschichte entstehen. Es ist die Geschichte von einem Musterschüler kommunistischer politischer Erziehung, der sich alleine an der Spitze einer Weltmacht daran macht, deren gesamtes politisches System und damit auch die gesamte Sowjetgesellschaft auf den Kopf zu stellen. Und all dies, weil er erkannt hat, dass der Sowjetkommunismus bei einem bloßen "Weiter so" die UdSSR politisch und wirtschaftlich in den Untergang führen würde.

Begeisterung für intelligente Diskussionen und Ablehnung von Gewalt

Viele der von Taubman befragten Zeitzeugen bescheinigen Gorbatschow unstillbare geistige Neugierde, Begeisterung für intelligente Diskussionen und Ablehnung jeglicher Form von Gewalt. Ebenso eine unbändige Tatkraft, praktische Probleme vor Ort auch tatsächlich zu lösen – alles Eigenschaften, die ihn von den üblichen KPdSU-Apparatschiks wohltuend unterschieden. Die ihn aber auch blind machten gegenüber den Widerständen seiner politischen Gegner.
Sehr gut gelingt es Taubman Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika in der UdSSR und ihrem zunehmenden Scheitern seine fast proportional dazu wachsende Anerkennung in Europa und den USA gegenüber zu stellen. In der Weltpolitik kann er immer unabhängiger von den Fesseln des Politbüros seinen Charme in der begeisterten westlichen Öffentlichkeit ausspielen und eine Anerkennung gewinnen, die ihm zu Hause immer mehr versagt wird.
Taubman stellt das innenpolitische Geschehen in der UdSSR als eine einzige Abfolge von Krisen dar: von der Unvollkommenheit der Wirtschaftsreformen über die außenpolitischen Zugeständnisse gegenüber den USA in der Abrüstung, die den Widerstand der Hardliner im Politbüro provoziert, bis hin zu Gorbatschows Verkennung der Explosivkraft der aufkommenden nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in Osteuropa und in den einzelnen Sowjetrepubliken. Sie sollten schließlich den Warschauer Pakt sprengen, und am Ende die UdSSR selbst. Taubman fängt die Dramatik dieses Geschehens sehr gut ein, berücksichtigt aber im Gegenzug Erfolge, wie den überfälligen sowjetischen Abzug aus Afghanistan, zu wenig.

Das visionäre Projekt des Staatsmannes war gescheitert

Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Gorbatschow im August 1991, steht sein einstiger Mitreformer und späterer Gegenspieler Boris Jelzin bald als Sieger, nämlich als Präsident eines neuen unabhängigen Russlands da. Das visionäre Projekt eines großen russischen Staatsmanns, ohne Gewalt Ansätze einer Demokratie in der UdSSR einzuführen, war gescheitert. Es folgte Jelzins Chaos-Regierung und die Rückkehr in alte autoritäre russische Traditionen unter Putin.
Mitunter ist die Biographie zu sehr auf das unmittelbare Geschehen um Gorbatschow und im Politbüro fixiert. Einblendungen historischer struktureller Perspektiven, woran denn die Wirtschaftsreformen eigentlich scheiterten und warum die Moskauer Bürger den Putschversuch trotz Jelzins Protestaufrufen so passiv verfolgten, hätten geholfen, Gorbatschows Agieren noch besser einordnen zu können.
Viele Fragen werden auch nach dieser umfassenden Gorbatschow-Biografie auf Dauer unbeantwortet bleiben. Warum hat er nach dem gescheiterten Putschversuch nicht selbst die Initiative ergriffen, sondern sie Jelzin überlassen? Warum hat er ohne wirklichen politischen Zwang und ohne politische Gegenleistung die NATO-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands gebilligt? "Gorbatschow ist schwer zu verstehen...ein tragischer Held, der Bewunderung verdient", so lautet das Resümee Taubmans.
Auch die Geschichte und historische Staatsmänner folgen manchmal Wegen, die nicht zu ergründen sind. Das macht die Beschäftigung mit Gorbatschow über ihn selbst hinaus auch heute noch so faszinierend.

William Taubman: Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit.
Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz
C.H. Beck Verlag, München 2018
935 Seiten, 38 Euro

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