Wilhelm Genazino: "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze"

"Verkorkste Lage" als nächste Haltestelle

Genazino-Buchcover vor dem Hintergrund einer Straßenbahnhaltestelle in Frankfurt/M.
Genazino-Buchcover vor dem Hintergrund einer Straßenbahnhaltestelle in Frankfurt/M. © picture-alliance / dpa / Uwe Anspach / Hanser
Von Helmut Böttiger · 01.02.2018
Wilhelm Genazino schickt seine Leser mit seinem neuesten Roman der nächsten prekären Existenz hinterher. Und auch hier: Der direkte Zusammenhang zwischen Leere, Ödnis und Sexualität treibt das absurde Theater in der Großstadt rund um den Ich-Erzähler immer schonungsloser voran.
Wilhelm Genazinos Helden waren schon immer prekäre Existenzen, finanziell nah am Abgrund. Der neueste, der wie meistens in Genazinos Romanen keinen Namen hat und in der Ich-Form spricht, hat jetzt gar keinen Beruf mehr. Es werden zwar "Jobs" genannt, denen er zeitweilig nachgegangen ist, aber vor allem wird er von seiner früheren Ehefrau ausgehalten. Die Szene, wie sie in der Friedhofsgärtnerei ihres Vaters eine Anstellung für ihren ehemaligen Mann arrangieren möchte, gehört zu den grotesken Höhepunkten des neuen Romans.
Auf eine Handlung im klassischen Sinn, gar eine Entwicklung der Hauptfigur, verzichtet der Autor fast völlig. Aber die bewährten Lebenserhaltungsmaßnahmen, die man aus Genazinos Texten kennt, blitzen wieder auf: die Ich-Figur erfindet eigene Namen für bestimmte Straßenbahn-Haltestellen in der einschlägigen Innenstadt Frankfurts: "Ewiger Mangel" etwa oder "Verkorkste Lage", und wenn das Ich sich vorstellt, dass der Straßenbahnfahrer diese Haltestellen durch den Lautsprecher bekanntgibt, kann es sich wenigstens kurz ins Fäustchen lachen.

Eine ganz unheimliche Konsequenz

Und es gibt noch mehr dieser klassischen Genazino-Elemente: Das "Allheilmittel, schnell auf die Straße gehen und mich zerstreuen", das "Betreten eines Kaufhauses" – jedes Mal kommt es zu einer verzweifelten Performance. Und der direkte Zusammenhang zwischen Leere, Ödnis und Sexualität treibt das absurde Theater immer schonungsloser voran. Die Eltern und das Aufwachsen in der Nachkriegszeit bilden bei diesem Autor seit jeher leitmotivisch einen Verhängnis-Zusammenhang.
Im neuen Roman zeigt sich eine ganz unheimliche Konsequenz: Nachdem aus der Geliebten eine Ehefrau geworden ist, entpuppt sich diese zunehmend als "Mannmutter" und zwingt den Helden in seine Ausgangsmisere zurück. Wilhelm Genazino spielt, psychoanalytisch geschult, immer hemmungsloser auf einer Klaviatur, die kaum einer so beherrscht wie er. Die chronologischen Abläufe, die verschiedenen Lebensstufen, die biografische und die gesellschaftliche Entwicklung zerfließen in einem Prosa-Kontinuum, das einer inneren Logik gehorcht.

Themen variiert mit schrägsten Akkorden

Es gibt zwei ästhetische Prägungen, die Wilhelm Genazino ausmachen und die nur bei ihm in dieser Ausschließlichkeit zum Einklang kommen: die ausweglosen, existenzialistischen Entwürfe Becketts oder Kafkas und später die satirischen Texte und Karikaturen der Zeitschrift "pardon" - aus den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren. Im Lauf der Zeit sind dabei Standards entstanden wie im Jazz: Die Themen werden ständig wiederholt und variiert, mit schrägsten Akkorden.
Vor Überraschungen und abrupten Wendungen ist man nie gefeit. Dass der Unfalltod einer Geliebten genauso gleichmütig notiert wird, wie das Pfeifen eines Spatzen an einer Mülltonne, trägt zur merkwürdig surrealen, hyperrealistischen Atmosphäre dieses neuesten Romans des Großstadt-Seismographen Wilhelm Genazino bei. Die Liebhaber dieses Autors kommen auch hier wieder zwangsläufig auf ihre Kosten. Neulinge werden manche Stellen allerdings wohl ungläubig zweimal lesen.

Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze
Carl Hanser Verlag, München 2018
175 Seiten, 20 Euro

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