Wiedergefundenes Judentum

Wie polnische Jugendliche mit ihren jüdischen Wurzeln umgehen

Polnische Juden feiern Hawdala, das Ende des Sabbats und den Anfang der neuen Woche.
Polnische Juden feiern Hawdala, das Ende des Sabbats und den Anfang der neuen Woche. © Deutschlandradio / Katka Reszke
Von Arkadiusz Luba · 18.09.2015
In Polen blüht seit einigen Jahren das jüdische Leben auf. Viele junge Menschen entdecken als Nachkommen der zurückgebliebenen polnischen Juden ihre Wurzeln. Erst in ihrem wiedergefundenen Judentum fühlen sie sich vollständig - und wollen dies auch leben.
"Man kann die polnische Geschichte ohne die Geschichte der polnischen Juden nicht verstehen. Man kann aber auch die jüdische Geschichte ohne die polnische nicht verstehen. Die polnische und die jüdische Welt haben sich gegenseitig beeinflusst, über Jahrhunderte waren sie Nachbarn."
Meint Bronisław Komorowski, polnischer Staatspräsident.
Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten in Polen knapp dreieinhalb Millionen Juden. Sie waren die größte Bevölkerungsgruppe jüdischen Glaubens in Europa. Nur ein Zehntel von ihnen überlebte die Schreckensherrschaft der Nazis. Und die meisten dieser Zurückgebliebenen verließen Polen in der Zeit danach, denn auch in der regierenden Kommunistischen Partei wuchs der Antisemitismus.
Nach dem Schock die Neugier
Als Mikołaj Trzaska seine jüdischen Wurzeln plötzlich entdeckte, war er geschockt:
"Als kleiner Junge habe ich viele Judenwitze gehört, die im Nachkriegspolen sehr populär waren. Ich habe mich daher wörtlich wie ein Lappen voller Flöhe und lächerlich gefühlt, als ich erfahren habe, dass ich Jude bin. Das Bild eines Juden war nämlich so, dass er gierig sei und nur das Geld wolle."
Erst die politische Wende 1989 hat das geändert. Die dritte Generation nach dem Holocaust steht zu ihrer jüdischen Herkunft. Die jungen Menschen wollen das Judentum in Polen erhalten, selbst wenn ihre Eltern oder Großeltern oft aus Angst ihre Herkunft geheim gehalten und erst viel später offenbart haben.
Mati Kirschenbaum aus Breslau erfuhr mit zwölf von seiner jüdischen Herkunft. Bis dahin trug seine Familie einen nach dem Krieg vorsichtshalber polonisierten Namen. Kirschenbaum fühlte sich nie besonders mit dem polnischen Katholizismus verbunden und daher entschied er sich, seine jüdischen Wurzeln und die Religion seiner Vorfahren zu pflegen:
"Die Identität der polnischen Juden nach deren massenhaften Vernichtung war gefährdet. Ich wollte das Leben meiner Vorfahren weiterführen und die Elemente ihrer Welt kennenlernen. Und so haben mich das Intellektuelle und das Emotionale am Judentum völlig verschlungen. Es hat gepasst."
Seit knapp 25 Jahren nun wird die jüdische Kultur in Polen wieder gefeiert, zum Beispiel beim ältesten Festival der Jüdischen Kultur in Krakau. Hier treffen sich Juden und Nicht-Juden, Künstler und Intellektuelle. Sie entdecken und popularisieren die "verschwundene" jüdische Kultur. Es bedeute jedoch keine Wiedergeburt aus dem Nichts, unterstreicht Raphael Rogiński, Gitarrist des Trio Shofar, das die chassidische Musik mit Gegenwartsjazz vermischt.
Das Gefühl der unerwarteten Nachkommenschaft
Rogiński ist überzeugt, dass das Judentum in Polen eigentlich nie ganz verschwunden war:
"Die jüdische Kultur blieb hier auch während des Holocausts; nach dem Krieg war sie sehr interessant, es wurde viel Lyrik geschrieben. Es gab jüdisch stämmige Komponisten, die jüdische Themen in moderne Musik übertragen haben. Aus diesem bunten Mix der Einflüsse ist auch mein Trio entstanden."
Rogiński will durch seine Musik das jüdische Leben in Polen bereichern. Dadurch manifestiert er auch seine Zugehörigkeit.
Die – wie sie genannt werden – "unerwarteten Nachkommen" der zurückgebliebenen polnischen Juden fühlen sich erst in ihrem wieder gefundenen Judentum vollständig. Nochmals Mikołaj Trzaska, der die eigene Herkunft erst als Vater zweier Kinder akzeptiert hat:
"Wir nehmen etwas an, das wir früher nicht hatten. Es ist unbeschreiblich schön – als wenn du nach einem Apfel greifst, weil du Vitamine brauchst: Erst nachdem du ihn gegessen hast, fühlst du dich komplett."
Mati Kirschenbaum hat seine Heimatstadt Breslau inzwischen verlassen und studiert in Potsdam am Institut für Jüdische Theologie. Er will – irgendwann in der Zukunft – ein liberaler Rabbiner werden und in Polen einer jüdischen Gemeinde vorstehen. Bislang gebe es keinen liberalen Rabbiner, der in Polen geboren wurde, meint Kirschenbaum:
"Aufgrund der enormen Vernichtung sind die Probleme der polnischen Juden sehr spezifisch. Nicht jeder Rabbiner versteht sie. Ich verstehe sie dagegen, weil sie meinen jüdischen Weg begleitet haben. Ich würde dann meine künftige Gemeinde fördern, aber auch zeigen, wie sie bewusst und tüchtig bleibt, wenn ich mal zwei Wochen im Urlaub bin."
Eine selbstbewusste Generation entsteht
6.000 Juden leben nach Schätzungen derzeit in Polen. Katka Reszke hat die dritte Generation nach dem Holocaust zum Thema ihrer Doktorarbeit gemacht. Ihre Studie über Erzählungen zur jüdischen Identität ist im Krakauer Verlag Austeria erschienen, der sich auf jüdische Themen spezialisiert. Sie beschäftigt sich mit der jüdischen Herkunft, Authentizität und Zukunft. Was bedeutet es, im heutigen Polen junger Jude zu sein? Katka Reszke:
"Weil es Polen ist, wo die jüdische Kultur so vollständig herausgerissen wurde, ist hier die Entdeckung selbst einer kleinsten jüdischen Wurzel was ganz Besonderes, anders als woanders in der Welt. Wir diskutieren jeden Tag zwanghaft über das Judentum und was es bedeutet, Jude zu sein. Und dies ist unglaublich mit Inhalten gefüllt."
Wie sich solche Diskussionen entwickeln, weiß derzeit niemand in Polen. Aber eine neue, selbstbewusste Generation polnischer Juden wächst. Das ist sicher.
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