Wie wir wurden, was wir sind

15.11.2012
Was macht den Menschen zum Menschen? Der Philosoph Kurt Bayertz schildert die Geschichte des aufrechten Ganges und erklärt die damit verbundenen Folgen. Eine ebenso anspruchsvolle wie unterhaltsame Lektüre.
Wer zu Kurt Bayertz Buch "Der aufrechte Gang" greift, rechnet eventuell damit, dass neben den Füßen auch auf die Hände verwiesen wird. Aber wohl kaum jemand würde vermuten, dass es immer wieder Verweise auf den Pinguin gibt. Der Pinguin hätte gegen Platons These angeführt werden können, dass es sich beim Menschen um ein zweifüßiges, federloses Wesen handelt. Weil aber Platon Pinguine nicht kannte, blieb es zunächst dem antiken Spötter Diogenes vorbehalten, diese Definition der Lächerlichkeit preiszugeben. Zu einer seinem Auftritte brachte er einen gerupften Hahn mit und stellte ihn als Platons Menschen vor.

Der aufrechte Gang gab immer wieder Anlass, danach zu fragen, warum die Natur den Menschen mit zwei Füßen versehen hat. Für Platon und auch für Aristoteles ist der aufrecht stehende Mensch Teil eines vertikal geordneten Kosmos, in dem das Vollkommenheitsprinzip eine von unten nach oben zunehmende Steigerung erfährt. In der räumlichen Entsprechung ergeben sich so Parallelen zwischen dem menschlichen Körperbau und dem Kosmos. Der Mensch kann aufgrund seiner körperlichen Konstitution und seiner geistigen Ausrichtung als ein Mikrokosmos definiert werden.

Gegen Platons Definition, die lange Zeit Gültigkeit hatte, verweist Mitte des 17. Jahrhunderts Thomas Browne auf den Pinguin, der doch im exakten Wortsinne aufrecht gehen würde. Zweifel meldet er auch gegenüber der These an, der Mensch sei aufgerichtet, damit er zum Himmel blicken kann. Dagegen würde die Anordnung der Augenlider sprechen. Hingegen könnte der Uranoskopus, ein Fisch, sehr viel besser in den Himmel schauen.

Im 18. Jahrhundert verbindet Herder die aufrechte Stellung des Menschen mit der Freiheitsidee und dem Vermögen, vernünftig zu handeln: "Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht." Dagegen opponiert Forster, der nicht glauben will, dass der Mensch seine Intelligenz dem aufrechten Gang verdanke. Forster hatte auf seiner Weltreise auch Pinguine gesehen, die er nun gegen Herders These ins Feld führt: "Tragen denn nicht alle Vögel den Kopf in die Höhe; am meisten die allerdummsten, die Pinguins?" Der Pinguin erweist sich in der Geschichte des aufrechten Ganges als Regulativ. Auf ihn wird verwiesen, wenn die symbolische Bedeutung der aufrechten Stellung des Menschen verabsolutiert wird.

Dass sich der Mensch erst erheben musste und nicht bereits aufrecht stehend von Gott in diese Welt gestellt wurde, diesen Gedanken macht Darwin im Zusammenhang mit seiner Evolutionstheorie stark, und er wird darin von Friedrich Engels unterstützt. Durch den aufrechten Gang werden aber die Hände von ihrer ursprünglichen Funktion befreit und können perfektioniert werden.

Kurt Bayertz hat sein Buch chronologisch aufgebaut. In den ersten drei Kapiteln verfolgt er die Geschichte des aufrechten Gangs von der Antike bis in die Gegenwart und im abschließenden vierten Teil widmet er seine Aufmerksamkeit den damit verbundenen sozialen und kulturellen Folgen für die Menschwerdung. Mit beeindruckender Sicherheit bewegt sich Bayertz in diesem Terrain und er versteht es, die entscheidenden Wendepunkte in der Geschichte des aufrechten Gangs herauszuarbeiten. Das ist eine anspruchsvolle aber auch sehr unterhaltsame Lektüre. Wer etwas über die scheinbar selbstverständlichste Sache, unser aufrechtes Stehen, erfahren will, und wer wissen will, welche Ideen sich daran knüpften, der wird in diesem Buch überzeugende Antworten finden.

Besprochen von Michael Opitz

Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens
C.H. Beck Verlag, München 2012
415 Seiten, 26,95 Euro