Wie wir uns erfinden

Von Almut Schnerring und Sascha Verlan · 22.05.2010
Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich an jeden einzelnen Parkplatz erinnern, an dem Sie Ihr Auto jemals abgestellt hatten - und zwar ganz exakt, als wenn es eben jetzt gewesen wäre: alle Bilder würden sich überlagern. Wenn unser Gehirn alles gleich wichtig nehmen würde, könnten Sie das Gestern nicht mehr vom Heute unterscheiden und würden morgen Ihr Auto nicht mehr wieder finden.
Erinnern heißt auswählen, und vergessen ist dabei das Wichtigste. Was bedeutet das aber auf unser gesamtes Leben bezogen? Wenn unser Gehirn auswählt und wegwirft, können wir uns dann auf unsere Lebenserinnerung verlassen?
Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält.
(Max Frisch)
Wir meinen, uns auf das verlassen zu können, was wir mit eigenen Augen gesehen haben. Aber die Bestandteile unserer Wahrnehmung, ob gesehen, gehört, gerochen oder gefühlt, sie werden in jedem neuen Erinnerungsprozess neu zusammengesetzt und rekonstruiert. Das geht so weit, dass wir uns an Dinge erinnern, die so nie passiert sein können. Mit diesem Wissen liest man die Autobiografie eines Menschen mit anderen Augen. Dieses Wissen wirft ein anderes Licht auf Geschichtsbücher. Und es kann allein das Zuhören und das eigene Erzählen verändern.
Almut Schnerring und Sascha Verlan haben nachgefragt bei Menschen, die sich mit dem Phänomen der Erinnerung beschäftigen: bei Historikern, Psychologen und bei Kognitionswissenschaftlern, bei Schriftstellern, Biografen und Kulturwissenschaftlern. Sie haben sie nach ihren Erkenntnissen gefragt, aber auch nach ihren eigenen Erinnerungen. Eine Lange Nacht, die dem Wesen der Erinnerung und des Vergessens nachgeht und die zugleich Anlass und Anreiz sein möchte, sich selbst zu erinnern.

Unsere Identität ist unsere Biografie. Und wenn wir keine biografischen Daten mehr haben, dann haben wir keine Identität mehr.
(Burkhard Peter)

"Also das erste wirkliche Stück Musik, an das ich mich richtig erinnern kann, ist vielleicht ein bisschen atypisch, ist die Moldau von Smetana. Das hat mein Papa immer gehört, als ich klein war. Und ich weiß, ich hab immer geschaukelt im Garten, ein jetzt sehr idyllisches, romantisches Bild. Und dann hat mir mein Papa irgendwann mal auf Kassette dieses Lied geschenkt, oder dann waren da auch noch andere Sachen drauf, von Dvorak, jetzt erinner ich mich nicht mehr genau. Und dann hab ich da geschaukelt und die Moldau gehört und selber dazu Texte gedichtet und die gesungen. Ich hab also praktisch die erste Oper schon mit fünf komponiert, zumindest textlich. Und daran kann ich mich erinnern. Und das löst eigentlich auch immer noch dasselbe Glücksgefühl aus, weil das ist schon ein irrsinnig treibendes Stück, und wenn man dann schaukelt, und das kommt alles so mit nach vorn, also es war großartig. Und das hab ich dann aber auch so bis zum Kotzen betrieben, also ich hab bestimmt zwei Stunden durchgeschaukelt. Und das ist so das erste Musikstück, an das ich mich richtig erinnere." (Nina)

Also, was man gestern Morgen zum Frühstück gegessen hat, ist ziemlich schwer in die Erinnerung zurückzurufen, es sei denn, das Ei war irgendwie faul oder man hat von der Vogelgrippe gehört und sich geärgert, dass man es gegessen hat oder sonst wie. Aber generell erinnert man Dinge, die wiederkehren, nicht. Warum? Weil es keinen Sinn macht.
(Harald Welzer)

"Nicht mehr erinnern will man doch eigentlich immer so genannte peinliche Momente. Das kann so was doofes sein wie, mir ist es mal passiert: Ich ging in München in der Fußgängerzone und aus irgendeinem Grund hat jemand in einem Kaufhaus ganz oben ein Fenster aufgemacht und einen Eimer Putzwasser rausgeschüttet, und das ist genau auf mich niedergegangen. Und ich war in einer Menge von dort flanierenden, einkaufenden Menschen in der Münchner Fußgängerzone, war bis auf die Haut durchnässt mit dreckigem Abwaschwasser oder was auch immer für ein Wasser das war. Ich weiß es bis heute nicht, Hab nur hochgeguckt und sehe jemanden mit so einem Plastikeimer so ein Fenster wieder zumachen. Und bis heute frag ich mich, galt das mir. Natürlich galt das nicht mir. Das war einfach in der Menge. Aber ich hab es als Einziger abgekriegt. Ich bin nämlich so weitergegangen, als ob nichts geschehen wäre, weil der Moment da sozusagen mit einem Fingerzeig von oben aus dem 6. Stock eines Kaufhauses sozusagen durchnässt zu werden, das war so peinlich, dass ich einfach weiterging, als ob nichts geschehen wäre und hinter mir diese nasse Spur zog, während alle anderen mich anguckten. Ich war aussätzig." (Thomas)

Zu verlangen, dass er immer alles, was er je gelesen, behalten haben sollte, ist wie verlangen, dass er alles, was er je gegessen hat, noch in sich trage. Er hat von diesem leiblich, von jenem geistig gelebt und ist geworden, was er ist.
(Arthur Schopenhauer)

"Ich habe vier Tage vor dem 11. September mein Praktikum begonnen am Leo-Baeck-Institut und es war ja ein ganz normaler Arbeitstag am Dienstag dann. 11. September war ein Dienstag. Und ich weiß nur noch, wie das alles aussah. Also, ganz, ganz verrückt, weil das habe ich zum Beispiel auch noch nie mehr gesehen im Fernsehen oder so oder auf irgendwelchen Bildern. Und zwar sind alle Fenster blind geworden, sehr schnell nacheinander, das war wie so ein Rasseln von den Anzeigen im ... die alten Anzeigen in Flughäfen, wenn die Flüge so durchrattern, ja? So war das mit den Fenstern, ganze ... die ganze Front, die ... auf die ich geguckt habe, ist komplett runtergerasselt, alles ist da runter, alle Fenster sind nacheinander blind geworden. Das sah aus, als würde Wasser übers Gebäude laufen." (Nora)

Das Quellengedächtnis. Ja. Das Quellengedächtnis ist katastrophal. Es ist bei uns Menschen ganz katastrophal. Und das Schlimme ist ja, Sie haben etwas gelesen, Sie haben etwas gesehen und es ist ein bekanntes Phänomen, dass wir biografische Erlebnisse aufgrund von gesehenen Zeitungsbildern oder so etwas produzieren. Das sind reine Konstrukte, die völlig irreal sind oder zum 50 oder 60 Prozent irreal sind. Das passiert regelmäßig. Und das, was Sie ebenfalls überhaupt nicht mehr auseinanderhalten können, ist: Haben Sie es gelesen oder wurde es Ihnen gesagt? Haben Sie es aus Erzählungen? Ist es was Eigenes? Oder ist es etwas, was Sie über einen Dritten gehört haben? Das können Sie nach einer bestimmten Weile nicht mehr unterscheiden.
(Johannes Fried)
"Es gibt eine Erinnerung, von der ich denke, dass sie meine erste Erinnerung ist. Mein Bruder und ich hatten als Kind so einen Stubenwagen, hieß es damals noch, weiß nicht, ob es das immer noch gibt. Aber so ein großer, so ein Riesending aus geflochtenem Korb mit so einem großen, so eine Art Baldachin drüber oder so was man hatte. Und ich glaub, meine erste Erinnerung, von der ich zumindest glaub, dass es die ist, ist, dass ich in diesem Stubenwagen drin liege, was eigentlich das Säuglingsalter ist, und entweder ist es totaler Quatsch oder es ist wirklich eine Erinnerung, die ich ab und an mal hab ... ja ... und ich da halt so raus guck, und ich diesen Stubenwagen unheimlich gut find. So eine Art von Geborgenheit oder vielleicht auch Gemütlichkeit oder so was." (Markus)

Die Frage der Erinnerung ist eigentlich eine interdisziplinäre Frage, die beschäftigt Literaturwissenschaftler, Historiker, Psychologen, Hirnforscher.
(Miriam Gebhard)

"Es gibt eine ganz verschwommene Erinnerung an den ersten Kindergartenbesuch. Das war irgendwie, glaube ich - hat mir meine Mutter dann erzählt -, der Versuch mich früher in den Kindergarten zu tun als ursprünglich gedacht. Das hat aber nicht funktioniert. Ich weiß aber, dass ich total verwundert darüber war, was ich hier eigentlich soll. Also, was das ist. Es war mehr so, als hätte jetzt jemand kurz das Licht angemacht und irgendwie mich an einen Platz getan, an dem ich nichts verloren hatte. Also, eigentlich totale Verwunderung." (Henrik)

Wie ich mein Leben sehe und wie ich es darstelle, hat was mit Lebensphilosophien zu tun. Die sind natürlich durch die Weltanschauung oder die Religion geprägt, die sind durch meine Kultur geprägt. Und ob ich die Schicksalsschläge betone oder ob ich betone, dass ich ein Subjekt bin und das Schicksal in die Hand nehme und dem Schicksal trotze, das ist eine Frage der Lebensphilosophie.
(Katrin Rohnstock)

Wenn die Raupe einmal zum Schmetterling geworden ist, erinnert er sich nicht mehr daran, eine Raupe gewesen zu sein. Er erinnert sich, ein kleiner Schmetterling gewesen zu sein.
(Georges Vaillant)

Warum machen wir eigentlich diese Konstruktionen in unseren Biografien? Wir versuchen unserem Lebenslauf, gerade der Vergangenheit Sinn abzugewinnen. Für das selbst, für unser Selbst soll das Erzählen des vergangenen Lebens Sinn abwerfen. Keiner will gelebt haben, ohne dass es einen Sinn gemacht hätte.
(Harald Neumeyer)
Die Musik der Langen Nacht vom Erinnern und Vergessen:

Nightmares on Wax (div. Titel aus 2 Alben): 'In a space outta sound' und 'Mind Elevation'

Die Musikerinnerungen der Interviewpartner:

- Alphaville, Forever young
- Il silenzio
- Depeche Mode
- Duran Duran
- Grandmaster Flash & The Furious Five - The Message
- Michael Jackson - Thriller
- Marvin Gaye - Ain't no montain high enough
- Richard Wagner - Tristan und Isolde
- Semtana - Moldau
- Creedence Clearwater Revival
- Eric Clapton - Layla
- Robin Thick - Lost without you
- Johann Sebastian Bach - Toccata und Fuge in d-moll

Literatur der Interviewpartner:

- Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. C.H.Beck Verlag 2005.

- Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. C.H.Beck 2004.

- Jana Simon: Alltägliche Abgründe. Das Fremde in unserer Nähe. LinksVerlag 2004.

- Hans J. Markowitsch/Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Orhnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett-Cotta 2005.

- Heinz von Foerster/ Ernst von Glasersfeld: Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus. Carl Auer Systeme Verlag 1999