Wie Ost- und Westdeutsche ticken

Rezensiert von Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt · 03.10.2010
Klaus Schroder untersucht, gestützt auf diverse Erhebungen, wie groß die Unterschiede und Befindlichkeiten zwischen West- und Ostdeutschen auch nach 20 Jahren Einheit noch sind. Gleichzeitig zeigt er auf, dass bestimmte Verhaltensmuster aller Deutschen von außen gesehen als typisch deutsch bezeichnet werden.
Zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands hat Professor Klaus Schröder ein Buch über das neue Deutschland vorgelegt, in dem er mit wissenschaftlicher Gründlichkeit tief in die noch immer unterschiedlichen Begriffsinhalte und Denkmuster verschiedener Menschengruppen in unserem Land hineinschaut.

Seine Aussagen werden belegt mit den Ergebnissen vieler Allensbach-Umfragen und ausführlichen Literaturzitaten. Insofern ist dieses im Taschenbuchformat erschienene Werk nicht nur eine interessante Lektüre für alle an der Gestaltung der Wiedervereinigung interessierte Leser, sondern sicher auch für die diesen Prozess mit wissenschaftlichen Analysen begleitenden Soziologen und Politologen. Auch wenn wir inzwischen über vieles gemeinsam jammern oder jubeln, gibt es doch noch viele statistisch belegbare Verhaltens- und Bewertungsunterschiede zwischen Ost und West. Vorurteile und Vorbehalte gegen die jeweils Anderen gibt es in Ost und West. Diese beziehen sich fast immer auf konträre Bewertungen.

Während der Jahre der Teilung haben sich zwei fundamental verschiedene Gesellschaften und dadurch unterschiedliche mentale Dispositionen herausgebildet. Auch nach 20 Jahren wirken liberale und totalitäre Sozialisationserfahrungen nach und prägen die individuellen Einstellungen. Die Schwierigkeiten im Wiedervereinigungsprozess haben einige dieser Einstellungen sogar noch verfestigt. Die Menschen aus der ehemaligen DDR wurden sozialisiert in einer nivellierten Gesellschaft, in der es weder einen Mittelstand noch eine Kultur der Selbständigkeit gab. Sie wurde als eine planwirtschaftliche Fürsorgediktatur empfunden. 9,6 Millionen Menschen gehörten der Einheitsgewerkschaft an, jeder fünfte Erwachsene war Mitglied der SED.

Der Mangel an individueller politischer Freiheit wurde durch eine Politik sozialer Sicherheit mit nur begrenzter sozialer Differenzierung überdeckt. Noch heute ist die Meinung, vom Staat mehr zu erwarten, als er in einer freiheitlichen Leistungsgesellschaft zu leisten vermag, in den neuen Bundesländern weit verbreitet. Deutlich mehr als die Hälfte der Ostdeutschen entscheiden sich, vor die Wahl gestellt, für die soziale Sicherheit und damit gegen mehr individuelle Freiheit. Einer knappen Hälfte ist die soziale Gleichheit wichtiger als eine als Risiko empfundene eigene Gestaltungsfreiheit.

Das hängt sicher auch mit der hohen Arbeitslosigkeit infolge des wirtschaftlichen Transformationsprozesses zusammen. Die zunächst geforderte Freiheit führte zu enttäuschender sozialer Unsicherheit. Insofern sind das Verhaltensmuster, die nachvollziehbar sind und die sich mit zunehmender wirtschaftlicher Stabilität auswachsen werden. Gegenwärtig führt das noch zu regelmäßig sehr unterschiedlichen Wahlergebnissen.

Diese Zusammenhänge werden von Klaus Schröder nahezu einfühlsam nachvollzogen und erklärt. Für die Bevölkerung der ehemaligen DDR hatte sich das Leben durch den Systemwechsel in fast allen Beziehungen geändert. Darauf waren die meisten nicht vorbereitet. Die Kritik am sozialistischen Staatssystem wurde – bewusst oder unbewusst und je nach persönlicher Einbindung – als pauschale Kritik an der persönlichen Lebensleistung empfunden.

Auch wenn das nicht immer herausgestellt wurde – es trafen Menschen mit demonstrativ gezeigtem Erfolg ihres Wirtschaftssystems und harter Währung zusammen mit Menschen aus einem gescheiterten Wirtschaftssystem mit wertlos gewordener Binnenwährung. Ohne dass es gewollt war, führte das bei nicht allen aber auch nicht wenigen Ostdeutschen zu einem Unterlegenheitsgefühl. Umso mehr ist es notwendig, jetzt auf die objektiven Schwierigkeiten des Transformationsprozesses und die geleistete Aufbauarbeit hinzuweisen. Erfolge bauen Menschen auf und vermitteln Selbstbewusstsein. Die gelegentlich kultivierte Nörgelei über den Aufbau Ost hilft dabei kaum. Insofern bleibt zu hoffen, dass auch diese Entwicklungsdiskrepanzen bald überwunden sein werden.

Dabei macht Klaus Schröder auf Zusammenhänge aufmerksam, die wahrscheinlich nicht alle so sehen, aber die man wohl auch nicht widerlegen kann. So verschieden wir Ostdeutschen oder wir Deutschen in Ost und West uns in der wechselseitigen Wahrnehmung auch noch sehen mögen, so ähnlich werden wir gemeinsam von außen gesehen. Unsere Neigung zum Perfektionismus, das Beharren auf dem als unbedingt wichtig Erkannten und der Wechsel von einer extremen Position in eine andere, das heißt, die Neigung zum Überzeichnen von Problemen, wird - von außen betrachtet - als typisch deutsch bezeichnet. Insofern, schreibt Klaus Schröder, "sind sich die Deutschen also vielleicht ähnlicher, als Äußerungen und Umfragen vermuten lassen. Vordergründig systembedingt nachwirkende unterschiedliche Mentalitäten lassen sich insofern durchaus auch auf einen gemeinsamen Kern zurückführen."

Nicht alle müssen das so sehen und sicher gibt es auch Einzelbeispiele, um eine solche Einschätzung zu widerlegen. Es gibt aber mehr als nur Einzelbeispiele, um es zu belegen. Jeder wird dabei behaupten, selbst Recht zu haben. So sind wir nun einmal. Am Ende werden wir gemeinsam feststellen, dass weder psychoanalytische Deutungen noch psychotherapeutische Hilfestellungen uns gegenseitig helfen, sondern nur gemeinsame Erfolge bei der Lösung gemeinsamer Aufgaben bei der Folgeaufarbeitung unserer gemeinsamen Geschichte.

Klaus Schroeder: Das neue Deutschland - Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört
wjs-Verlag 2010
Cover "Das neue Deutschland" von Klaus Schroeder
Cover "Das neue Deutschland" von Klaus Schroeder© wjs Verlag