Wie Marktgiganten die Wirtschaft lenken

Von Uli Müller · 22.01.2012
In seinem Buch erklärt der britische Soziologe Colin Crouch, wie sich der Neoliberalismus in den vergangenen Jahren in Europa durchsetzen konnte. Dabei beleuchtet er auch die beunruhigende Rolle, die transnationale Konzerne in der Gesellschaft spielen.
Sie sind gegen ein Mitmischen des Staates in der Wirtschaft. Gleichzeitig plädieren sie für milliardenschwere Bankenrettungen aus der Staatskasse. Sie sind dafür, dass Konsumenten frei wählen können zwischen verschiedenen Produkten. Gleichzeitig sind sie überzeugt, dass es allen besser geht, wenn Monopole das Angebot diktieren.

Solche Ansichten sind verwunderlich, ja irgendwie schizophren. Und doch werden sie tausendfach vertreten von neoliberalen Ökonomen und Politikern. Diese sind weit davon entfernt, auch nur in den Verdacht zu geraten, sie wären krank. Colin Crouch hätte den Titel für sein neues Buch nicht treffender wählen können: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus.

"Der Begriff des 'Liberalismus' ist so schlüpfrig, wie ein politischer Begriff nur sein kann."

Für die Erklärung, was konkret unter dem Begriff Neoliberalismus zu verstehen ist, nimmt sich der britische Soziologe und Politikwissenschaftler viel Zeit.

Dabei kommt ihm seine angelsächsische Perspektive zugute; schließlich eroberte die neue Spielart des Liberalismus seit den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgehend von den USA und Großbritannien die westliche Welt. Das Wort neoliberal entwickelte sich schnell zum Kampfbegriff - für Konservative und Linke.

Doch bevor es wieder salonfähig wurde, vollzog sich eine merkwürdige Umdeutung seines Inhaltes. Auch deshalb schafften es die neuen Wirtschaftsliberalen, nach Jahrzehnten der Marginalisierung ins Rampenlicht zurück zu kehren.

Entgegen der alten Tradition gestanden sie dem Staat zwar Eingriffe in den Markt zu. Aber nur, um sein reibungsloses Funktionieren abzusichern. Diese Idee wurde in den USA schnell populär und deshalb dort als neoliberal bezeichnet, weil man inzwischen unter Liberalismus eine linke Politik verstand.

"Heute existieren viele unterschiedliche Varianten und Nuancen des Neoliberalismus, doch besteht sein Wesen nach wie vor darin, den Markt grundsätzlich dem Staat als Mittel zur Lösung von Problemen und zur Erreichung zivilisatorischer Ziele vorzuziehen."

Gegen Ende des ersten Kapitels hat Crouch eine wohltuende begriffliche Klarheit hergestellt. Gleichzeitig arbeitet er heraus, wie vor allem Ökonomen aus Chicago und ihnen verbundene Politiker einen grundlegenden Wandel in der öffentlichen Debatte bewirkten:

"An die Stelle der liberalen Idee der Wahlfreiheit des Konsumenten trat die paternalistische Sorge um seinen Wohlstand, derzufolge er vor allem von sinkenden Preisen profitiere, die natürlich eher von Großkonzernen als von kleinen und mittleren Unternehmen gewährleistet werden können."

Von der Öffentlichkeit wurde diese eigenartige Neudeutung kaum wahrgenommen. Die Diskussion konzentrierte sich auf den Konflikt zwischen Markt und Staat. Der war altbekannt und so schön einfach. Dabei trug der neue Inhalt des alten Begriffs maßgeblich zur fragwürdigen Erfolgsgeschichte dieser Ideologie bei. Auch für Colin Crouch ist er von grundlegender Bedeutung.

Im Kern dreht sich sein Buch nämlich um die beunruhigende Rolle, die transnationale Konzerne in der Gesellschaft spielen. Er nennt sie Marktgiganten. Das sind Unternehmen, die ihre Geschäfte in mehreren Ländern machen und so groß sind, dass sie eine marktbeherrschende Stellung einnehmen können.

"Entscheidend ist das politische Problem, das Marktgiganten darstellen, da die marktbeherrschende Stellung mit politischem Einfluss einhergehen kann und transnationale Unternehmen zuweilen in der Lage sind, Staaten gegeneinander auszuspielen."

Obwohl die Beispiele dafür inzwischen zahlreich sind, hält sich Crouch mit einer anschaulichen Untermauerung seines Befundes nicht auf. Er beruft sich lieber auf prominente Mitstreiter wie Simon Johnson, den früheren Chef des Internationalen Währungsfonds. Der stellte fest, die Finanzbranche kontrolliere die US-Regierung inzwischen auf eine Weise, die sonst nur in Entwicklungsländern üblich sei.

In der Nachkriegszeit dominierte in den westlichen Industriestaaten 30 Jahre lang die keynesianische Wirtschaftspolitik. Crouch stellt die Bedingungen dar, die zu ihrer Ablösung durch den Neoliberalismus beitrugen. Und auch, wie es dazu kam, dass im Mittelpunkt staatlicher Eingriffe nicht länger die Förderung von Arbeitern und Angestellten stand, sondern die von Banken, Börsen und Finanzmärkten. Gekonnt verschränkt er diese Analyse mit einer Forschung nach den Ursachen der aktuellen Finanzkrise.

"Wie wir heute wissen, wirkten zwei sehr unterschiedliche Kräfte zusammen, um das neoliberale Modell vor der ansonsten unvermeidlichen Instabilität zu bewahren: das Wachstum der Kreditmärkte für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sowie die Entstehung von Märkten für Derivate und Terminkontrakte für Menschen mit großem Vermögen."

Diese Kombination, so Crouch, brachte einen "Keynesianismus der privaten Hand" hervor. Darunter versteht er eine Umschichtung bei den Schuldnern: Nicht nur der Staat nahm Kredite auf, um die Wirtschaft anzukurbeln, sondern in immer größerem Umfang verschuldeten sich Privatleute; nicht zuletzt solche, deren Einkommen gering waren.

Crouch kommt wie zum Beispiel Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz zu dem Schluss, dass der Neoliberalismus die Reichen bevorzugt, indem er Einkommen und Vermögen zu deren Gunsten umverteilt. Die Lasten tragen - die Armen.

"Dieser politische Wandel war grundlegender als alles, was durch reguläre Regierungswechsel von nominell sozialdemokratischen zu neoliberal-konservativen Parteien hätte bewirkt werden können. Er hat zu einem Rechtsruck im ganzen politischen Spektrum geführt, da man die kollektiven und individuellen Interessen der Bürger den Finanzmärkten überließ, die keineswegs jeden gleich behandeln, sondern ungeheure Einkommensunterschiede produzieren."

Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Schlussfolgerungen allerdings, die Colin Crouch aus seiner scharfen Analyse zieht, sind mager. Mit dem Blick zurück auf die vergangenen drei Jahre glaubt er, dass mit dem Beinahe-Kollaps die Logik des Finanzsystems keineswegs gebrochen wurde. Es würde sich lediglich ein in Nuancen verändertes System etablieren, in dem weiterhin Großunternehmen dominieren.

Warum er so pessimistisch ist, verrät er dem Leser leider nicht. Anders als bei der Analyse der Zustände, die durch intellektuelle Leichtigkeit und Faktenreichtum glänzt, stellt er dieses Resümee nur in den Raum.

Tatsächlich verfolgen die Banken inzwischen wieder nahezu alle fragwürdigen Geschäftspraktiken, die zur Krise geführt haben. Und obwohl sie für den Ausbruch der Finanzkrise maßgeblich verantwortlich sind, gingen sie gestärkt aus ihr hervor. Das betont der Autor auch gleich auf der ersten Seite des Buches.

Immerhin setzt er berechtigte Hoffnungen in die weltweit erstarkende Zivilgesellschaft. Und er kann sich auch vorstellen, dass sich Politiker zu einem Verbot von Universalbanken durchringen. Dann könnten Banker ihre riskanten Geschäfte wenigstens nicht länger mit den Ersparnissen der kleinen Leute finanzieren. Insgesamt zeigt Crouch nur diese Alternative auf. Sie ist wichtig, für sich genommen aber viel zu wenig.

Irgendwie erwartet man von jemandem, der so klar das Spiel hinter den Kulissen durchschaut, der Machtverhältnisse nicht ausblendet, sondern unbestechlich ausleuchtet, wenigstens noch ein paar Vorschläge, wie der Einfluss von Banken und Großkonzernen gestutzt werden kann. Schließlich sollte die Wirtschaft den Menschen dienen und nicht die Menschen der Wirtschaft.

Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
Cover: "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus" von Colin Crouch
Cover: "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus" von Colin Crouch© Suhrkamp Verlag