Wie können wir Afghanistan wirklich helfen?

29.01.2011
Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ist gestern vom Bundestag erneut um ein Jahr verlängert worden – bis zum 31. Januar 2012. Erstmals wird auch ein Zeitrahmen für den Abzug genannt: Wenn es die Lage erlaubt, soll er Ende dieses Jahres beginnen.
Die Mandatsobergrenze von 5000 Soldaten plus einer Reserve von 350 Soldaten bleibt unverändert. Derzeit sind knapp 4900 deutsche Soldaten am Hindukusch im Einsatz. Die Nato will Afghanistan bis 2014 verlassen.

Ob die internationalen Truppen bis dahin dem Land in Hinsicht auf die Lebensqualität, Bildung, Demokratieentwicklung oder Sicherheit etwas Bleibendes hinterlassen, ist indes fraglich. Die bisherige Bilanz ist ernüchternd: Noch immer lebt der größte Teil der Afghanen am Existenzminimum. Einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen zufolge hat sich die Zahl der Selbstmordattentate mit mehreren Attentätern seit 2009 verdoppelt, Rebellen ermordeten wöchentlich 21 Menschen, dreimal so viele wie im Vorjahr. Doch es gibt auch Erfolgsgeschichten – und diese offenbar nicht aufgrund, sondern trotz des Engagements des Westens und der Nato.

Eine dieser Erfolgsgeschichten ist die der "Kinderhilfe Afghanistan". Ihre Gründer Reinhard und Annette Erös engagieren sich seit 1985 in Afghanistan und betreiben mittlerweile Dutzende Schulen, Ausbildungsstätten, Waisenhäuser und Krankenstationen in den besonders gefährdeten Ostprovinzen. Der ehemalige Oberstarzt der Bundeswehr kennt Land und Menschen wie kaum ein anderer. Sein Erfolgsrezept:

"Man muss den Leuten in Augenhöhe begegnen. Also ich darf da nicht der reiche Onkel aus dem Westen sein, der da das Füllhorn dann mit Dollars und Euro ausschüttet, also quasi von oben nach unten das Geld fließt. Das Geld bleibt in einer Höhe. Und beim Bauen und auch beim Betreiben einer Schule haben Ausländer - jetzt außer mir, und ich bin für die Afghanen nur noch so ein halber Ausländer - keinen Zutritt, schon gar keine ausländischen Soldaten, die dürfen da nicht hin."

Man könne nicht gegen, sondern nur mit den Taliban arbeiten.

"Bevor wir den ersten Spatenstich machen, müssen wir sicher sein, dass die Gemeinde die Schule wirklich will und den Bau mit allen abgesprochen hat, die in der Region Macht und Einfluss haben. Dazu gehört meist auch der jeweilige Anführer der Taliban."

Sein Motto:

"Wer in der Vorhölle arbeitet, der muss mit dem Teufel ab und zu eine Tasse Tee trinken."

Wenn der wortgewaltige Urbayer dabei die traditionelle Kleidung der Afghanen und die passende Kopfbedeckung trägt, ist der "deutsche Afghane" kaum von den Einheimischen zu unterscheiden. Der sechsfache Vater, der für sein Engagement unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, macht auch keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegenüber dem deutschen Mandat in Afghanistan:

"Ich bin gegen den Einsatz der Bundeswehr, aber ich stehe hinter den Soldaten, deshalb trage ich auch die Solidaritätsschleife. Ich bin gegen diese Politik, die die Soldaten verheizt."

Um unabhängig zu bleiben, finanziert sich die Kinderhilfe Afghanistan ausschließlich aus privaten Spenden. Die von Entwicklungsminister Dirk Niebel propagierte Vernetzung von Entwicklungshilfe und Militär hält Reinhard Erös für falsch.

"Das Militär ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Jeder, der in Afghanistan mit einer Uniform aufläuft, ist ein Besatzer."

Polizei und Militär seien das mit weitem Abstand häufigste Ziel von Anschlägen. Deshalb hat Erös deutschen Offizieren, die er schulte, eingeschärft:

"Befehlen Sie Ihren Soldaten, sich afghanischen Kindern nicht mehr zu nähern!"

In Afghanistan sagt er den Erwachsenen:

"Fahrt nicht hinter militärischen Konvois her!"

Und den Kindern:

"Wenn Ihr Soldaten seht, lauft weg!"

"Wie können wir Afghanistan wirklich helfen?"
Darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit Reinhard Erös. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de

Informationen im Internet:
Homepage der Kinderhilfe Afghanistan

Literatur:
Reinhard Erös: "Tee mit dem Teufel", Hoffmann und Campe 2002
Reinhard Erös: "Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen", Hoffmann und Campe 2008