Wie Herr Lehmann nach Berlin kam

23.09.2008
Mit "Herr Lehmann" gelang Sven Regener vor sieben Jahren ein Überraschungserfolg. Der Roman über die letzten Tage des kleinen Subkulturdorfs Kreuzberg im Schatten der Mauer verkaufte sich mehrere hunderttausend Mal und wurde fürs Kino verfilmt. Dann kam "Neue Vahr Süd" über das Leben im alternativen Bremen von 1980. Genau da fängt jetzt "Der kleine Bruder" an: Frank Lehmann sitzt in seinem Opel Kadett, neben ihm sein Punk-Kumpel Wolli, und sie fahren auf der Transitstrecke nach Berlin.
Es gibt viel, das man an der Lehmann-Trilogie des Berliner Sängers, Songwriters und Schriftstellers Sven Regener loben kann. Am allermeisten wahrscheinlich, dass es Frank Lehmann, der Hauptfigur, ziemlich unangenehm wäre, das ganze überhaupt eine "Trilogie" zu nennen. Das fände er wahrscheinlich zu großspurig. Ja, sind halt drei Bücher, würde er wohl sagen.

Mit dem Überraschungserfolg "Herr Lehmann" fing es vor sieben Jahren an, von dem Regener mehrere hunderttausend Stück verkaufte und der fürs Kino verfilmt wurde. Ein kleiner Roman über die letzten Tage des kleinen Subkulturdorfs Kreuzberg im Schatten der Mauer. Am Anfang sitzt der Titelheld betrunken auf der Straße und spricht mit einem Hund. Am Schluss steht er an der Oberbaumbrücke und weiß nicht so recht, was er von der Maueröffnung halten soll.

Dann kam "Neue Vahr Süd", ein ziemlicher Wälzer, aber genau wie "Herr Lehmann" eigentlich auch so ein kleines Buch, weil es nie den großen Bogen spannt und sich stattdessen auf die Schilderung der Details des Lebens im alternativen Bremen von 1980 beschränkt, den Wahnsinn zwischen K-Gruppen, WGs und Bundeswehr.

Und nun das Mittelstück: "Der kleine Bruder": Es erzählt, wie Frank Lehmann nach Berlin kommt.

Und das ist ebenfalls rasch erzählt. Das Buch spielt im Verlauf von zwei Tagen: Frank Lehmann trifft in Berlin ein, landet in der WG seines Bruders, stellt dort fest, dass dieser nicht da ist und dass niemand weiß, wo er steckt, worauf er sich auf die Suche nach ihm begibt. Dazwischen hängt er in einigen Kreuzberger Kneipen herum und entdeckt, dass die eine Tätigkeit, die ihn wirklich ausfüllt und glücklich macht, das Bierverkaufen ist.

Das reicht im Grunde auch. Viel mehr wird in den kommenden Jahren in Frank Lehmanns Leben nicht passieren. Nur, dass er eben irgendwann nicht mehr der kleine Bruder sein wird sondern Herr Lehmann.

Im November 1980 ist er aber noch der kleine Bruder von Mannie, dem verschwundenen Bruder, den hier alle Freddie nennen, und der mit seinen Schrottschweißereien eine große Nummer im Kreuzberger Experimentalkunstbetrieb ist. Was Frank nicht wirklich zu imponieren scheint.

Schön erzählt Regener, wie sich Frank Lehmann mit seiner bodenständigen Coolness zwischen all den romantischen Außenseitern und Spinnern durchnavigiert. Anders geht das wohl auch nicht. Damit romantisiert Regener das Kreuzberg jener Tage genauso wenig wie er es dem Spott freigibt.

So ähnlich wird es wohl gewesen sein, zwischen Instant-Dichtern, Performance-Bier-Trinkern, Hausbesetzern und Paranoiapunks. Dass das Haus, um das es hauptsächlich geht, gar nicht besetzt ist, sondern von seinem Besitzer gegenüber Künstlern und Besetzern nur als solches vorgetäuscht wird, um alle zufriedenzustellen, ist dabei nur eine Pointe von vielen.

Ohne irgendetwas zu glorifizieren, hat Sven Regener mit seiner "Herr Lehmann"-Trilogie eine Archäologie des bekanntesten Berliner Bezirks geschrieben - in all seiner Provinzialität, Exzentrik und Schönheit.

Aber auch das wäre Frank Lehmann wahrscheinlich ein bisschen viel des Lobes. Ist ja auch seit langem untergegangen, dieses Kreuzberg.

Rezensiert von Tobias Rapp

Sven Regener: Der kleine Bruder
Eichborn Verlag, Berlin 2008
281 Seiten, 19,95 Euro
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