"Wie eine Wiederbegegnung mit einer jüngeren Schwester"

Moderation: Ulrike Timm · 19.07.2013
Ulla Hahn hat sich ihre Gedichte aus den 1980er-Jahren angeschaut und zu jedem ein neues geschrieben. Sie sagt, Lyrik zu schreiben, bedeute für sie, zu den Quellen zurückzugehen. Erster Leser der neuen Texte sei, wie immer, ihr Mann.
Ulrike Timm: Ulla Hahn ist eine der eindrücklichsten und ausdrucksstärksten Dichterinnen, die wir haben. Die meisten Leser kennen vielleicht trotzdem vor allem ihre autobiografisch gefärbten Romane "Das verborgene Wort" und "Aufbruch".

Aber immer wieder hat Ulla Hahn ihre Stimme als Lyrikerin gefunden. 1981 erschien der erste Gedichtband, "Herz über Kopf", überaus erfolgreich. Jetzt ist Ulla Hahn noch mal zu ihren Gedichten aus den 1980er-Jahren zurückgekehrt und hat sie neu beleuchtet. "Wiederworte" heißt dieser Gedichtband. Widerworte mit dem kleinen Haken eines rückwärts gewandten "e" im Titel: Jedem früheren Gedicht ist ein neues gegenübergestellt, mal als borstiges Widerwort, mal humorvoll, mal ganz still, und manchmal hat sie auch einfach wieder Worte gefunden, um ein früheres Gefühl oder einen früheren Gedanken neu zu spiegeln. Ich freue mich, dass Ulla Hahn uns jetzt zugeschaltet ist. Schönen guten Tag nach Hamburg!

Ulla Hahn: Ja, guten Tag, Frau Timm!

Timm: Frau Hahn, wie war das, sich selbst mit fast 30 Jahren Abstand noch mal auf diese Weise wiederzubegegnen?

Hahn: Nun ja, ich meine, man liest ja nicht jeden Tag seine früheren Gedichte noch einmal. Ich habe mir die noch mal angeschaut. Und da habe ich gedacht: Oh je, was hast du damals für Erfahrungen gemacht? Aber die Erfindungen, die du damit gemacht hast, die sind doch irgendwie gar nicht so schlecht. Und dann hatte ich die Idee, mir diese Erfahrungen von damals noch mal anzuschauen und mit meinen Erfahrungen, die ja doch immerhin in über 30 Jahren gesammelt worden sind, noch mal neue Erfindungen, also ästhetische, poetische Erfindungen den alten gegenüberzustellen.

Timm: Haben Sie sich immer wiedererkannt, die junge Ulla Hahn von damals?

Hahn: Ach, wiedererkannt, natürlich habe ich mich wiedererkannt. Das war wie eine Wiederbegegnung mit einer jüngeren Schwester, dass ich gedacht habe: Ach, was hast du damals für Sachen erlebt und wie hast du darauf reagiert. Und im Großen und Ganzen gut, dass du das alles überstanden hast, was da zur Sprache gekommen ist.

Timm: Lassen Sie uns mal ein Beispiel so einer Spiegelung hören. Das frühere Gedicht heißt "Blinde Flecken", und das spätere heißt "Blaue Flecken". Ob Sie uns die beiden mal vorlesen mögen?

Hahn: Ja, gern!

Blinde Flecken. Dass wir so uneins sind, hält uns zusammen, du dort, ich hier – wir sind auf anderer Fahrt: Dein Istgewesen, mein Eswirdnochkommen, zwei blinde Flecken in der Gegenwart, die uns gehört wie Träume vorm Erwachen, wenn wir schon wissen, dass wir Träumer sind, die mit uns spielt ein Weilchen in den Winden, bis jedes hier und dort sich wiederfind.

Blaue Flecken. Dass wir so uneins sind, hält uns zusammen, seit Jahr und Tag. Sing weiter, sagtest du, und ich: Sing mit. Und wie wir sangen! Zweistimmig mal, mal einzeln und zum Ärger unserer Feinde nur selten trafen wir den falschen Ton. Das Blaue sangen, singen wir vom Himmel uns herunter, ein kussecht himmelblau geflecktes Leben lang.


Timm: Die Dichterin Ulla Hahn mit blinden Flecken und mit blauen Flecken, zwei Gedichte mit 30 Jahren Abstand. Frau Hahn, die Anfangszeile ist die gleiche, auch wenn aus den blinden Flecken blaue Flecken geworden sind. Bestimmt schwer zu beschreiben, aber wie fanden da die alten in die neuen Worte?

Hahn: Tja, wissen Sie, wenn man das so genau wüsste, wie der Prozess, der psychologische Prozess einer Umformung von einer Erfahrung in ein ästhetisch geformtes Gebilde geht, hier der Sprache, na ja, ich glaube, dann hätte man schon ein Computerprogramm und bräuchte sich nicht mehr selbst anzustrengen. Das ergibt sich oder es ergibt sich nicht. Besser kann ich es eigentlich nicht sagen.

Timm: In einer nicht repräsentativen Umfrage unter wenigen Freunden wurde dieses zweite Gedicht "Blaue Flecken" als glücklicher gehört als das frühere, trotz blauer Flecken. Ist da was dran?

Hahn: Ja, natürlich. Ich spiele ja da mit dem Begriff der blauen Flecken. Blaue Flecken, die kriegt man ja an sich durch eine Verletzung, und hier eben durch Küsse. Und das mache ich überhaupt gerne, also eine übliche Erwartung anklingen lassen und die dann ästhetisch unterlaufen.

Timm: Das eine ist ein Liebesgedicht, das andere ein Ehegedicht – trotzdem natürlich noch ein Liebesgedicht.

Hahn: Das will ich doch hoffen!

Timm: Sie sind seit vielen Jahren mit dem früheren Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi verheiratet. Ist er Ihr erster Leser, gerade bei solchen Gedichten?

Hahn: Ja. Mein Mann ist überhaupt immer mein erster Leser. Ich denke, das ist wichtig, jemanden zu haben, zu dem man wirklich ein unbedingtes Vertrauen hat, und das ist da. Und außerdem haben mein Mann und ich uns auch über meine Gedichte kennengelernt, das heißt, mein Mann kannte meine Gedichte, bevor er mich überhaupt zum ersten Mal gesehen hat. Und das schafft natürlich auch ein Vertrauen.

Timm: Wir sprechen mit der Dichterin Ulla Hahn über ihren Gedichtband "Wiederworte", in dem sie früheren Gedichten neue gegenüberstellt. Frau Hahn, wenn man sich wiederbegegnet, Sie sagten, Sie haben die jüngere Ulla Hahn immer wiedererkannt, aber haben Sie sie immer gut verstanden oder hat sie Sie auch mal befremdet oder erschreckt?

Hahn: Ich habe sie eigentlich dann ein bisschen bedauert. Ich habe gedacht, meine Güte, warum hast du das nicht alles schneller kapiert? Oder es geht ja dann häufig um eine unglückliche Liebesgeschichte – warum musstest du da so lange dich abarbeiten? Aber ich glaube, das ist auch etwas, was vielen Menschen passiert, dass man sagt, oh Gott, was hast du da gemacht, warum hast du das nicht früher kapiert und hast daraus nicht früher deine Schlüsse gezogen beziehungsweise bist nicht gegangen oder wie auch immer. Ja, das ist da beim wieder Lesen sicherlich geschehen.

Timm: Manche der Gedichtpaarungen sind sehr abgründig, humorvoll, manche auch so richtig con Schmackes, einem anständigen Sonett haben Sie ein ständiges beigegeben, da geht es um Sex, dass die Wände wackeln, es sind aber auch sehr abgeklärte Gedichte dabei. Also es liegt eben 30 Jahre zurück und Sie haben in der Zeit auch viel Prosa geschrieben, viele Romane. Wann mündet eigentlich ein Gedanke, eine Empfindung in ein Gedicht und wann in Prosa?

Hahn: Das lässt sich so auch sehr schwer sagen. Im Nachhinein bin ich ja auch nichts anderes als eine Leserin. Ich weiß nur von mir zu sagen, dass ich, wenn ich ein längeres Prosastück, also diese Romane geschrieben habe, dass ich dann wirklich ein Verlangen habe, wie man so sagt, ad fontes, also zu den Quellen zurückzugehen und dann unbedingt wieder Gedichte zu schreiben. Dass ist wirklich so, als würden die Wörter darauf warten: Jetzt sieh uns aber mal ganz genau an und nur uns und ohne zu sehen, ob wir in eine Geschichte passen.

Timm: Sie haben in den Romanen auch Ihr sehr schwieriges Verhältnis zu dem kleinen Ort beschrieben, in dem Sie aufgewachsen sind, zu den Eltern, die sehr engen Verhältnisse. Sie haben sich mit Büchern eigentlich daraus befreit. Jetzt findet man in diesem Gedichtband ein Gedicht "Der Vater", ein sehr zwiespältiges, wuterfülltes, und ein ganz ausgesöhntes, "Geboren". Eignen Gedichte sich zum Versöhnen?

Hahn: Ja, wobei ich dieses Gedicht "Geboren" sicher nicht hätte schreiben können ohne die beiden vorangegangenen Romane, weil die mich noch mal sehr gezwungen haben zur Auseinandersetzung mit meinem Aufwachsen, und ich glaube, dass dieser versöhnende Blick, wie Sie richtig sagen, den schafft man auch erst aus einer gewissen Distanz und wenn man im Leben sicher Fuß gefasst hat. Es gab ja in den 70er-Jahren eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit Eltern auseinandersetzten, und zwar voller Hass und Wut und Empörung. So was hätte ich auch nicht schreiben mögen. Und deswegen brauchte ich auch die Zeit und den Abstand.

Timm: Also ein Gedicht als kondensierte Lebenserfahrung?

Hahn: Ja, wobei das immer zu kurz greift, wenn Sie dabei die ästhetische Umformung vergessen, denn dann könnte ich auch Tagebuch schreiben. Auch im Tagebuch kann man sich so einiges von der Seele schreiben. Aber in dem Augenblick, wo Sie versuchen, aus den Erfahrungen Erfindungen zu machen, ein persönliches Erleben universell zu machen durch sprachliche Formung, da bekommt das Ganze noch einmal eine andere Distanz. Und da werde ich dann auch selbst zu meinem eigenen Gegenüber.

Timm: Liest jemand wie Sie, der gern Liebesgedichte schreibt, auch besonders gern Liebesgedichte anderer Dichter?

Hahn: Ach, ich lese überhaupt unglaublich gerne andere Dichter, nicht nur Liebesgedichte. Ich meine, wenn Sie so wollen, sind ja doch die Dichterinnen und Dichter aller Zeiten meine nächsten Verwandten. Bei denen fühle ich mich wirklich zu Hause. Das klingt jetzt etwas emphatisch, aber dazu stehe ich dann auch.

Timm: Wer ist da besonders nah verwandt?

Hahn: In meinen Leservorlieben, da bin ich ganz hemmungslos promiskuitiv, das kann von Stunde zu Stunde wechseln. Bis vor ungefähr einem Monat war es Ezra Pound, mit dem ich mich ganz intensiv beschäftigt habe. Das wird dann erst mal wieder zurückgestellt. Jetzt ist es ein Lateinamerikaner, von dem leider viel zu wenig ins Deutsche übersetzt ist. Das wechselt wirklich ganz hemmungslos.

Timm: Ulla Hahn, Sie haben mal gesagt: Wenn ich keinen Zettel bei mir habe, dann fühle ich mich, als hätte ich kein Taschentuch bei mir. Ist das immer noch so? Haben Sie jetzt einen Zettel bei sich?

Hahn: Aber selbstverständlich habe ich einen Zettel bei mir. Ich würde nie ohne Zettel aus dem Haus gehen. Mir hat das ein Journalist mal nicht geglaubt, und dann hat er mich in einem Konzert erwischt, der kam dann ganz entgeistert in der Pause zu mir und sagte: Sie haben ja wirklich immer einen Zettel bei sich! Ja, ich habe diesen Zettel und so einen kleinen Bleistiftstummel immer bei mir.

Timm: Und aus den Zettelworten werden manchmal auch Gedichte?

Hahn: Ja, manchmal schon. Das geht zurück auf Erich Fried, der mir gesagt hat: Glaube nicht, dass dir abends am Schreibtisch das noch mal einfällt, was dir irgendwann am Tag mal durch den Kopf gegangen ist. Und das habe ich sehr ernst genommen.

Timm: Ich frage Sie auch, weil Ihre Hauptfigur im Roman, die Hilla Palm, die hat sogar ein Buch: "Ein Verzeichnis mit schönen Worten". Haben Sie das auch?

Hahn: Nein, das habe ich nicht mehr.

Timm: Welches ist Ihr schönstes Wort?

Hahn: Oh, mein schönstes Wort ist ganz klar, mein schönstes Wort ist Liebe, da muss ich gar nicht lange nachdenken.

Timm: Dankeschön!

Hahn: Gerne! Danke Ihnen auch, Frau Timm!

Timm: Schönen Tag nach Hamburg!

Hahn: Tschüss nach Berlin!

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