Wie die Türkei die freie Presse knebelt

Von Thomas Bormann · 14.02.2012
Sie sollen Putschisten, die PKK oder Terroristen unterstützt haben - und dafür sitzen sie jetzt im Gefängnis: Die türkische Justiz geht mit abenteuerlichen Vorwürfen gegen kritische Journalisten vor. Ein Symptom für den autoritären Wandel unter der Regierung Erdogan.
An den Morgen des 3. März vergangenen Jahres kann sich Yonca Sik noch genau erinnern:

"Es war fünf vor sieben, wir waren noch am schlafen, und wir haben einen Hund, der normalerweise eigentlich sehr ruhig ist – und er hat gebellt und ich bin aufgewacht, war natürlich schockiert, dass er bellt, weil er normalerweise nie bellt ... "

Aber an diesem Morgen stehen elf Polizisten vor der Wohnungstür von Yonca und Ahmet Sik im Istanbuler Stadtteil Gümüssuyu. Yonca Sik spricht so gut deutsch, weil sie in der Nähe von Köln aufgewachsen ist. Ihr Mann Ahmet Sik - er ist Anfang 40 - hat sich als investigativer Journalist in der Türkei einen Namen gemacht. Ahmet Sik hat in seinen Artikeln und Büchern schon etliche Skandale aufgedeckt. An jenem 3. März vor nun bald einem Jahr nehmen ihn die Polizisten fest – nach siebenstündiger Hausdurchsuchung.

"Sie haben ungefähr 450 CDs mitgenommen, darauf waren persönliche Fotos wie Geburtstag, Heiratstag und als meine Tochter geboren wurde, dann auch Zeichentrickfilme von meiner Tochter, 'Ice Age'."

Die Beamten suchten auf diesen CDs Beweise für den Vorwurf, Ahmet Sik gehöre dem kriminellen Netzwerk "Ergenekon" an. Dieser ultranationalistische Geheimbund soll Attentate gegen Prominente geplant haben und vor allem einen Putsch gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Diese Putschpläne hatte Ahmet Sik selbst vor einigen Jahren zusammen mit anderen Autoren aufgedeckt und seine Recherchen in einem Buch veröffentlicht. Nun soll er selbst diesem Geheimbund Ergenekon angehören?

Yonca: "Absurd und genauso wie Kafka das dargestellt hat, so richtig kafkaesk ist das."

Ahmet Sik ist bei Weitem nicht der einzige Journalist in der Türkei, der wegen zweifelhafter Vorwürfe im Gefängnis sitzt.

"Die Zahl ist jetzt auf einhundert gestiegen", sagt die Journalistin Zeynep Erdim aus Istanbul. Die meisten der Verhafteten sind Kurden; ihnen wirft die Justiz Propaganda für die Terror-Organisation PKK vor. Es sitzen also schon viele Journalisten in Haft. Aber, so sagt Zeynep Erdim:

"Als Achmet Sik und Nedim Sener verhaftet wurden, waren wir völlig schockiert."

Es war ein Wendepunkt, denn:

"Diese Regierung kam mit dem Versprechen an die Macht, die Demokratie in der Türkei auszubauen und all die ungeklärten Morde an Journalisten und Schriftstellern in früheren Jahren aufzuklären. Deshalb hätten wir nie damit gerechnet, dass jetzt diese beiden Symbolfiguren des freien Journalismus verhaftet werden. Sie haben gegen die dunklen Mächte früherer Regierungen gekämpft, recherchiert. Und jetzt werden sie verhaftet von der neuen Regierung, die mit dem Versprechen nach mehr Demokratie kam."

Hunderte Journalisten gingen damals auf die Straße und riefen: "Freie Presse – freie Gesellschaft". Aber längst ist die Presse in der Türkei nicht mehr frei. Viele Journalisten können nicht mehr das schreiben, was sie wollen. Zeynep Erdim zählt dafür drei Gründe auf:

"Erstens: Sie haben Angst. Zweitens: Ihre Verleger haben Angst um ihr Geschäft und sie ziehen die kritischen Journalisten in den Hintergrund und drittens: es gibt schon eine immense Selbstzensur."

Bald werden die Journalisten in Istanbul wieder für Pressefreiheit und für Meinungsfreiheit auf die Straße gehen, denn bald, am 3. März, sitzt ihr Vorbild, der Enthüllungsjournalist Ahmet Sik, schon ein Jahr lang in Haft. Anlass für die Verhaftung war das neue Buch, an dem Ahmet Sik arbeitete. Darin untersuchte er, inwieweit Anhänger des islamischen Gelehrten Fetullah Gülen die türkische Polizei unterwandert haben und nun immer mehr Einfluss auf die Politik der Türkei nehmen.

"Ahmet Sik hat in seinem Buch konkrete Beispiele aufgezeigt, wie sich die Gülen-Leute mit hohen Beamten treffen, mit Entscheidungsträgern, und sie begünstigen, ja wie Fetullah Gülen und seine Anhänger langsam an die Macht kommen. Es geht in dem Buch darum, wie die Gülen-Bewegung das alte kemalistische Establishment ersetzt. Anstatt Demokratie zu bringen, setzen sie sich selbst als das neue herrschende System der Türkei ein."

Die Gülen-Bewegung und die Regierung von Ministerpräsident Erdogan von der islamisch-konservativen Partei AKP verfolgen dabei dasselbe Ziel, meint die Journalistin Zeynep Erdim; auch Erdogan gehe es nicht um Demokratie, sondern um die Macht.

"Schulter an Schulter gegen den Faschismus!" rufen die 135 Parlamentsabgeordneten der größten Oppositionspartei, der traditionsreichen CHP, der Republikanischen Volkspartei. Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat sie vor fast 90 Jahren aus der Taufe gehoben. Für die Kemalisten ist Erdogans Politik Faschismus. Erdogan habe die Justiz bereits voll unter seiner Kontrolle und er lasse unter dem Generalvorwurf angeblicher Putschpläne willkürlich Journalisten und Oppositionelle hinter Schloss und Riegel bringen, so der Vorwurf von Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu:

"Die Türkei ist zu einer postmodernen Diktatur geworden. Es geschehen Dinge, die es selbst unter der Militärdiktatur damals nicht gab. Damals hatte die Diktatur Rangabzeichen, die heutige ist in zivil. Es ist schade um die Türkei. Die ganze Welt kritisiert mittlerweile die Türkei, Journalisten, Intellektuelle und Akademiker in Haft. Es reicht jetzt!"

Im Gefängnis von Silivri bei Istanbul sitzt nicht nur der Enthüllungsjournalist Ahmet Sik ein, sondern auch so mancher prominente Politiker der kemalistischen CHP. Auch sie stehen unter dem Verdacht, an dem Putschplänen des Geheimbundes Ergenekon mitgewirkt zu haben.
Parteichef Kemal Kilicdaroglu hatte seine inhaftierten Parteifreunde im November vergangenen Jahres besucht und danach direkt vor dem Gefängnis erklärt:

"Wir befinden uns hier im Vorhof eines Konzentrationslagers, und das in der Türkei des 21. Jahrhunderts. Ja, wer in der Türkei des 21. Jahrhunderts in Opposition zur Regierung steht, der bezahlt das mit Haft in einem Konzentrationslager in Silivri."

Zudem bezichtigte Kilicdaroglu die Richter, nicht unabhängig zu sein, sondern auf Befehl der Regierung Erdogan zu handeln. Das wiederum war dem Staatsanwalt zuviel. Kilicdaroglu habe in unzulässiger Weise das Gerichtsverfahren beeinflusst, schimpfte der Staatsanwalt und beantragte, die Immunität des Oppositionsführers aufzuheben, um gegen ihn zu ermitteln.
Die Abgeordneten der CHP waren empört – sogleich wiederholten alle 135 Fraktionsmitglieder den Satz, der den Staatsanwalt auf die Palme brachte:

"Das Gefängnis in Silivri ist ein Konzentrationslager für Oppositionelle", riefen sie im Chor, und warten seither, ob der Staatsanwalt gegen sie alle Ermittlungen aufnehmen will wegen Beeinflussung eines Gerichtsverfahrens. Kilicdaroglu fühlt sich nun schon fast als Märtyrer der Meinungsfreiheit und schlägt zurück.

"Angeblich soll ich versucht haben, die Justiz in einem laufenden Verfahren beeinflusst zu haben", sagt Kilicdaroglu und stellt daraufhin die rhetorische Frage:

"Welche Justiz? Kann eine Justiz, die im Auftrag der Regierung steht, gerechte Gerichtsverfahren führen? Können Gerichte mit Sonderbefugnissen gerechte Verfahren durchführen? Man nenne mir ein einziges demokratisches Land, in dem es Sondergerichte gibt! Das gibt es aber nicht."

Argumente, die auch die für die Journalistin Zeynep Erdim Gewicht haben, nur nicht, wenn sie aus dem Mund des Oppositionsführers Kilicdaroglu kommen. Schließlich habe dessen Partei jahrzehntelang die Türkei mit harter Hand regiert, habe ebenfalls Sondergerichte installiert und stets Oppositionelle und kritische Journalisten hinter Gitter bringen lassen:

"Kilicdaroglu ist der letzte, der sich darüber beschweren könnte. Das war immer so hier seit der Gründung der Republik und die selbst haben nichts getan, um das zu ändern. Ich bin mir sicher, auch jetzt wieder ist die Justiz unter Einfluss der Regierung. Ich kann es nicht beweisen, aber ich wäre nicht überrascht, denn: das ist die Türkei."

Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" veröffentlicht alljährlich eine Rangliste zur Pressefreiheit. Wegen all der Verhaftungen der letzten Monate rutschte die Türkei in dieser Rangliste auf 148 ab, von insgesamt 179 Ländern. Trotzdem weist Regierungschef Recep Tayyip Erdogan all die Vorwürfe empört zurück. Auf einer Fraktionssitzung seiner Partei, der AKP, sagte er:

"Welcher Journalist befindet sich in Haft, weil er die Regierung kritisiert hat? Das soll man uns bitte sagen! Welcher Journalist sitzt hinter Gittern nur aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit? Nicht ein einziger Journalist ist deswegen in Haft."

Nein, so Erdogan weiter, die fraglichen Journalisten seien allesamt wegen krimineller Delikte in Haft:

"Ich zähle auf: Versuch, die verfassungsrechtliche Ordnung des Landes zu ändern; Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung; sexueller Missbrauch; Diebstahl; Besitz einer Schusswaffe ohne Waffenschein; Unterlagenfälschung... Wenn es auch nur den geringsten Druck auf Meinungsfreiheit oder die Medienfreiheit gibt, dann wird allen voran die Regierung und die AKP dagegen vorgehen."

Das mag Ekrem Güzeldere so nicht stehen lassen. Er ist Politikwissenschaftler bei der Europäischen Stiftungs-Initiative, einem Forschungsinstitut mit Büro in Istanbul. Seiner Meinung nach gibt es in der Türkei zu viele Gesetze, die es Staatsanwälten leicht machen, Journalisten hinter Gitter zu schicken:

"2006 wurde das Anti-Terror-Gesetz geändert und Propaganda für eine Terror-Organisation wurde so behandelt, als ob man tatsächlich Mitglied dieser Terror-Organisation wäre. Und was ist Propaganda? Zum Beispiel ist das, wenn man mit einem Mitglied einer illegalen Organisation ein Interview führt."

Genau das aber gehört zum Beruf eines Journalisten, auch in der Türkei – und noch trauen sich auch dort Journalisten, solche Interviews zu führen.

"Davon werden einige angeklagt, eben wegen Propaganda für die Terror-Organisation, und andere nicht. Das ist ein großes Maß an Willkür."

Propaganda für eine Terror-Organisation – diesen Straftatbestand erfüllte in den Augen der Staatsanwälte auch das Manuskript des Journalisten Ahmet Sik für sein neues Buch über die Verstrickung der Gülen-Bewegung mit der Polizei und der Regierungspartei. Sik habe das Buch im Auftrag des Geheimbundes Ergenekon geschrieben; ein gefährliches Werk, entschieden die Staatsanwälte nach der Festnahme Siks, allein schon der Besitz einer Kopie dieses Manuskripts sei deshalb strafbar. Die Polizei versuchte damals, sämtliche Kopien des verbotenen Manuskripts zu vernichten. Im Internet tauchte dann aber doch eine Kopie auf und fand sehr schnell erstaunliche Verbreitung, erzählt Ahmet Siks Ehefrau Yonca:

"Über 200.000 Menschen haben es downgeloaded. Sie hatten es im Computer, und in Facebook gab es eine Riesen-Kampagne, wo sie gesagt haben: Wir haben das Buch! Sie können mich festnehmen!"

Die Staatsanwaltschaft hat aber bislang gegen niemanden ermittelt, der sich das verbotene Buch heruntergeladen hat, im Gegenteil, die Behörden schauten sogar tatenlos zu, als Ahmet Siks Manuskript als Buch erschien – Yonca Sik holt ein Exemplar des Buchs mit dem feuerroten Umschlag aus dem Regal und ist froh, dass das verbotene Buch erscheinen konnte:

"Gott sei Dank, ja, es liegt jetzt hier auf dem Tisch. Es ist erschienen, weil es doch noch mutige und gute Menschen gibt, die dagegen sind, dass Bücher vernichtet werden, verboten werden."

Als Herausgeber steht nicht nur Ahmet Sik auf dem Buchumschlag, nein, insgesamt 125 namhafte Autoren und Freunde haben das Buch gemeinsam herausgegeben und ihre Namen auf dem Buchtitel abdrucken lassen:

"Es ist nicht mehr möglich, das Buch zu beschlagnahmen. Sie müssen dann diese 125 Menschen, worin auch Claudia Roth und Cem Özdemir Autoren sind, die müssen dann auch mitgenommen werden."

Das verbotene Buch von Ahmet Sik ist überall in der Türkei zu kaufen und stand wochenlang ganz oben auf der Bestseller-Liste. Das freut den Autor, aber es hilft ihm nicht. Er sitzt nach wie vor in Haft, mit streng geregelten Besuchszeiten:

"Also, ich hab die Möglichkeit, einmal in der Woche ihn zu besuchen, 30 Minuten hinter einem Fenster. Zwei Scheiben haben wir und dann dürfen wir mit dem Telefon reden. Und einmal im Monat eine Stunde dürfen wir dann an einem Tisch sitzen und nur die Hände halten; wir dürfen da nicht nebeneinander sitzen, und einmal in der Woche darf er zehn Minuten telefonieren."

... alles strengstens geregelt. Und wie geht es ihm dabei?

"Es geht ihm sehr gut. Er ist natürlich sehr wütend. Aber diese Wut macht ihn auch sehr, sehr stark."

Besonders schwer aber war es für ihn, dass er auch am zwölften Geburtstag seiner Tochter in der Gefängniszelle saß:

"Es ist natürlich nicht einfach für ein Kind, das irgendwie zu verstehen. Sie meinte, dass ihr Vater von jetzt ab nicht mehr schreiben soll; er soll nur noch Märchenbücher schreiben. Aber, es geht ihr schon gut, also, wenn die Mama weint, dann weint sie auch, mit Solidarität und so geht es mir wirklich sehr gut, also, wir stehen das schon durch."
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