Wie das Leben funktionieren könnte

Rezensiert von Martin Tschechne · 14.04.2013
Recht charmant leitet Harald Welzer die Leser von "Selbst Denken" an, nicht immer mit allem einverstanden zu sein. Seine Analyse und Argumentation belegt der Sozialpsychologe mit konkreten Geschichten, aus denen er handfeste Empfehlungen zum Widerstand ableitet.
"Sie werden es schon bemerkt haben", so wendet sich der Autor Harald Welzer zum Ende eines Kapitels an seine Leser: "Sie werden es bemerkt haben: Ich spreche über Sie."

Die kleine Adresse an die Leser sagt eine Menge über den Ton des Buches – jovial, lässig, ein bisschen keck –, und natürlich auch etwas über dessen Inhalt. Es geht um einen Lebensstil, den kaum einer in Frage stellt. Um eine Kultur, die den Alltag bestimmt in Europa, den USA, immer mehr auch in Indien, China oder Brasilien. Eine Kultur, die ganz offensichtlich an ihr natürliches Ende stößt oder längst gestoßen ist – nur wollen das die wenigsten zugeben, solange sich Geschäfte damit machen lassen.

Konsum als Religion
Bisweilen auch spricht Welzer von einer Religion, wenn es um Wachstum geht. Und das Konsumieren wäre dann so etwas wie ein Gottesdienst. Wie sagte noch der damalige New Yorker Bürgermeister Robert Giuliani gleich nach den Anschlägen auf das World Trade Center? "Zeigt, dass ihr keine Angst habt. Geht einkaufen!"

Um es deutlich zu sagen: Harald Welzer, Jahrgang '58, Sozialpsychologe, Direktor eines eigenen Instituts in Berlin und Professor für ein selbst entwickeltes und maßgeschneidertes Fach mit Namen "Transformationsdesign" an der Uni Flensburg – Welzer tritt nicht auf als mönchischer Fortschritts- und Konsumverweigerer. Er ist über Mobiltelefon zu erreichen, kommuniziert und recherchiert im Internet, und wenn er etwa als Vortragsredner gefragt ist, dann setzt er sich eben in die Bahn. An einer Stelle des Buches gesteht er sogar, dass auch er Brot wegschmeißt, ohne mit der Wimper zu zucken.

"Ich bin ja nicht auf die Welt gekommen, und da stand eine in weiße Laken gehüllte Person neben mir, die gesagt hat: Du bist zu uns gekommen, um die Welt zu retten. Es ist ja niemandem von uns als Aufgabe gestellt, die Welt zu retten. Wenn man moralisch argumentiert, dann würde ich sagen, es ist lediglich die Aufgabe, aus dem, was man tun kann, das möglichst meiste zu machen. Punkt. Und da wir ja nun – ich in meiner Position, Sie in Ihrer, aber überhaupt alle in so einer hyperreichen Gesellschaft – wahnsinnig viel tun können, warum sollen Sie es denn um Himmels Namen nicht tun?"

Also beruft sich Welzer auf den Philosophen Theodor W. Adorno, der in seinen "Minima Moralia" konstatiert: "Intelligenz ist eine moralische Kategorie." Sprich: Wer den Verstand hat, etwas zu tun, um Unglück abzuwenden – der ist auch dazu verpflichtet.

Buchcover: "Selbst Denken - Eine Anleitung zum Widerstand" von Harald Welzer
Buchcover: "Selbst Denken - Eine Anleitung zum Widerstand"© S. Fischer Verlag
Gewissenloses Unwissen
Dies ist der Punkt, an dem die Streitschrift ansetzt. Der Punkt, an dem Wissen in Handeln mündet, und Unwissen, Wissen-Losigkeit in Gewissenlosigkeit umschlägt. Denn jeder weiß um die Folgen eines ins Hysterische gesteigerten Konsumismus, jeder um die Endlichkeit der Ressourcen, die Gefahr globaler Erwärmung, die wachsenden Berge von Abfall. Jeder weiß, dass und wie eigenes Verhalten zum ökonomischen und ökologischen Kollaps beiträgt. Doch die schiere Information, so Welzer, ist nicht das Problem. Im Gegenteil. Eher schon lenkt sie ab von dem, worauf es ankommt.

"Informationsvermittlung ist etwas völlig anderes. Das ist eines dieser ganzen Defizite innerhalb dieser Öko-Bewegung, dass die darauf setzt, dass sie Information vermittelt. Über CO2 oder den Zustand des Regenwaldes oder so etwas. Was keinen Menschen wirklich vital interessiert. Aber Geschichten interessieren Menschen."

Geschichten sind psychologische Einheiten, in denen Abläufe und Entwicklungen transparent werden. Wo Zahlen überwältigen oder irreleiten, wo Massen von Fakten die Zusammenhänge eher verschleiern als erklären – da belegen Geschichten, wie das Leben funktioniert. Oder: wie es funktionieren könnte.

"Ich halte das Geschichtenerzählen für ein radikal unterschätztes politisches Mittel. Radikal unterschätzt. Und jetzt kommt auch noch mal der Anknüpfungspunkt zu dem, was ich gesagt habe, dass die Öko- und Nachhaltigkeits-Bewegung nur reaktiv argumentiert, und dies unter Heranziehung von wissenschaftlichen Daten sonder gleichen. Das heißt im Umkehrschluss: Sie hat keine Gegengeschichte zu erzählen. Und ich kann Gesellschaft nur verändern, indem ich eine andere Geschichte erzähle. Keine soziale Bewegung ist ausgekommen, ohne eine andere Geschichte über sich und über einen zukünftigen Zustand zu erzählen."

Konkrete Geschichten vom Widerstand
Und so streut Welzer in seine Analysen eben Geschichten ein. Von Menschen, die "selbst denken", wie es der Titel des Buches empfiehlt. Die meisten sind tatsächlich so geschehen – wie die Geschichte von der Frau, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl damit begann, Erzeuger von Ökostrom aus der eigenen Nachbarschaft zu einem Netz zusammenzuschließen. Sehr erfolgreich. Es wächst bis heute. Und manche könnten so geschehen – wie die Geschichte von dem Mann, der eine neue Bohrmaschine kaufen will und bei der Bestellung im Internet erst mal an eine Reparaturwerkstatt verwiesen wird. Und dann an einen Nachbarn, der eine ähnliche Maschine schon besitzt. Warum nicht teilen? Eine Bohrmaschine braucht man dreimal im Jahr. Und worin soll da, bitte, ein Verzicht auf Lebensqualität liegen?

"Man kann die Frage ja blitzartig umdrehen und sagen: Worauf verzichten wir denn im Augenblick? Die Suggestion ist ja genau die: In dem Moment, wo ich sage, da müssen wir aber verzichten – ist ja der Status quo schon geadelt. Als etwas, der alles bietet und gar keinen Verzicht beinhaltet. Aber der Status quo beinhaltet ja gigantische Verzichte. Wahnsinn! Und wenn ich sagen würde: eine autofreie Stadt – wo soll da ein Verzicht sein? Worauf sollte man in einer autofreien Stadt verzichten? Ist doch völlig rätselhaft, wo da der Verzicht sein soll. Es ist ein gigantischer Gewinn. Oder ( ... ) wo liegt denn der Verzicht, wenn ich die Papaya nicht ganzjährig kriege? Das ist doch totaler Schwachsinn! Das ist doch kein Verzicht!"

Der Charme an Welzers Buch ist, dass es Analyse und Argumentation mit konkretem Handeln belegt. Mit Geschichten eben. Dass es darüber hinaus Emotionen zulässt, Ironie, Spott und – wo es angebracht ist, also ziemlich häufig – auch heiligen Zorn. Und dass es, drittens, aus allen Fakten und Prognosen auch handfeste Empfehlungen ableitet. Etwa: "Hören Sie auf, einverstanden zu sein." Oder: "Leisten Sie Widerstand, sobald Sie nicht einverstanden sind." Das wäre doch mal ein Anfang ...

Rezensiert von Martin Tschechne

Harald Welzer: Selbst Denken - Eine Anleitung zum Widerstand
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
328 Seiten, 19,99 Euro
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