Wie Alfredo Schwarcz Argentinier wurde

"Heimat ist nicht unbedingt dort, wo man geboren ist"

Alfredo Schwarcz und seine Frau Patricia
Alfredo Schwarcz und seine Frau Patricia © Tini von Poser
Von Tini von Poser  · 04.06.2018
Seine Eltern stammen aus Deutschland und Österreich, er selbst wurde in Argentinien geboren, dennoch fühlte sich Alfredo Schwarcz viele Jahre nicht richtig heimisch. Erst mit seinem politischen Engagement wuchs auch sein Heimatgefühl.
Zwischen den Altbauten der vierspurigen Avenida de Mayo drängen sich Menschenmassen mit wedelnden Fahnen. Sie ziehen quer durch das Zentrum von Buenos Aires. Mittendrin: Alfredo Schwarz.
"Gott sei Dank sieht man auch sehr viele junge, ganz junge Menschen."
Mal wieder beteiligt sich Alfredo Schwarcz an einer Demonstration.
"Die jetzige Regierung ist ziemlich gegen die Menschenrechte. Es wurden viele Sachen gemacht, die sehr gefährlich sind in dieser Hinsicht."
Alfredo Schwarcz sieht sportlich aus in Jeans und T-Shirt, hat volles, graues Haar und einen kurzen Bart. Er ist 67. Zusammen mit seiner Frau Patricia und einigen Freunden aus der Nachbarschaft skandiert er: Verdad, Memoria, Justicia – Wahrheit, Erinnerung, Gerechtigkeit. Ihr Protest soll an den Militärputsch von 1976 in Argentinien erinnern, aber er richtet sich auch gegen die aktuelle Regierung des konservativen Präsidenten Mauricio Macri. Erst vor einigen Monaten hat Schwarcz bei einer Demonstration mitgemacht. Die Regierung wollte Menschenrechtsverbrecher aus der Militärdiktatur begnadigen.
"Die wollten ein Gesetz einführen, Dos por Uno, weil diese Regierung wollte, dass wenn jemand 20 oder 30 Jahre Strafe hatte, wollten sie nur dann 15, damit sie freikommen. Das war eine kolossale Demonstration, und das wurde dann gestoppt. Es hat immer noch einen Sinn und eine Kraft, wenn wir uns auf der Straße äußern."

Heimat ist nichts Starres

Seit der schweren Finanzkrise in Argentinien von 2001 organisiert der Psychologe Alfredo Schwarcz zusammen mit seinen Nachbarn politische Aktionen. Erstmals fühlt er sich der argentinischen Gesellschaft zugehörig, er ist heimisch geworden.
"Heimat ist nicht unbedingt dort, wo man geboren ist. Weil das Heimatbegriff gerade ist nicht etwas Fixes, etwas, was fest ist, es kann sich ändern mit der Zeit, weil man ändert sich selber, die Welt ändert sich usw. Und die Landkarte der Zugehörigkeit kann sich bei jedem Menschen ändern."
Alfredo Schwarcz ist in Argentinien geboren. Seine Mutter stammt aus Deutschland, sein Vater aus Österreich. Als Juden müssen beide vor den Nationalsozialisten aus ihrer Heimat fliehen.
"Diese deutsche Kultur war immer noch sehr, sehr stark bei uns, und dann noch außerdem die alten, jüdischen Wurzeln sozusagen, und das alles auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, war nicht so leicht. Das ist, würde ich sagen, eine Lebensaufgabe."

Geborgenheit unter den Immigranten, Fremdeln mit den "Hiesigen"

Schwarcz wohnt heute noch da, wo er aufgewachsen ist: in dem wohlhabenden Stadtteil Belgrano im Norden von Buenos Aires. Prächtige Villen im Kolonialstil und uralte Bäume schmücken die breiten Straßen. Viele deutsch-jüdische Immigranten und ihre Kinder leben hier. Und die meisten von ihnen besuchten die Pestalozzi-Schule. Sie wurde 1934 von Gegnern des Nationalsozialismus gegründet.
"Diese deutsche Schule war sehr wichtig für die Immigranten, für die Kinder der Immigranten, meine ganze Schulbildung habe ich dort gemacht vom Kindergarten bis zum Abitur."
Sie hätten wie in einer Art Ghetto gelebt, sagt der Psychologe mit einem Lächeln.
"In einem positiveren Sinne Ghetto, in einer etwas geschlossenen Welt, aber ein geborgene Welt auch für uns, das war auch wichtig. Ich bin ziemlich spät auf mein Argentiniertum gekommen, und eine gewisse Schwierigkeit Kontakt aufzunehmen mit, was wir damals nannten, jetzt schon nicht mehr: die Hiesigen. Wir waren nicht die Hiesigen, das war ein starkes Wort, die Hiesigen, es war wie eine Abgrenzung oder Ausgrenzung. Das war eben die Identitätsfrage."

Das gestörte Heimatgefühl der Eltern

Um Identität und Heimatgefühl auf den Grund zu gehen, studiert Alfredo Schwarcz Psychologie. Für eine Forschungsarbeit befragt er zahlreiche deutsch-jüdische Immigranten in Argentinien nach ihrem Heimatgefühl. Heraus kommt das Buch: "Trotz allem ... Die deutschsprachigen Juden in Argentinien". Er stellt bei den meisten Immigranten eine "gestörte Sehnsucht" fest. Denn eine Sehnsucht in einem positiven Sinne würde bedeuten:
"Man erinnert sich an die Wurzeln, an das Herkunftsland usw. Und dann hat man so einen inneren Dialog mit dem, was man gelassen hat und dann kann man sich gut und richtig mit dem neuen Land identifizieren. Das ist also eine psychologische Arbeit, die man machen muss und da spielt die Sehnsucht eine wichtige Rolle. Aber bei dieser Immigration der deutschen Juden war diese Sehnsucht gestört, man hat versucht, ihnen ihre deutsche Identität weg zu nehmen. Es war nicht einfach, dass sie das Land verlassen mussten, weil es ein Krieg war oder eine wirtschaftliche Krise, sondern das war noch tiefer. Du bist nicht mehr ein Deutscher, Du bist nicht mehr ein Österreicher."
Wenn die Eltern ein gestörtes Heimatgefühl haben, übertrage es sich auch oft auf die nächsten Generationen, sagt Schwarcz. Auf der Suche nach Heimat und Identität geht er als junger Mann ein Jahr nach Israel und spielt mit dem Gedanken, dort für immer zu leben. Doch so richtig heimisch wird er dort nicht – allein schon wegen der Sprache. Deutschland kommt auch nicht in Frage, denn bei seinen Besuchen dort sind seine Gefühle widersprüchlich.
"Davon kann ich mich nicht ganz befreien, muss ich ehrlich sagen. Die Geschichte ist immer noch, die wiegt noch, die ist schwer, die trägt man noch, aber andererseits kommt mir alles so familiär vor. Wenn ich so die Leute höre, wenn sie sprechen, das Essen usw. Das ist eben so, das bleibt so, dieser Widerspruch, dieser innere Kampf, der besteht weiter bis zu einem gewissen Grad."
Auf der Landkarte der Zugehörigkeiten kann Alfredo Schwarcz heute Argentinien ganz klar als sein Heimatland ankreuzen. Nicht zuletzt durch seine argentinischen Freunde, mit denen er zu Demonstrationen geht.
"Ich fühle mich heute nicht mehr fehl am Platz sozusagen, was ich früher ja gefühlt habe. Heute bin ich Argentinier und ich fühle mich wohl."
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