Wie 9/11 die arabischen Revolutionen verzögert hat

Stefan Weidner im Gespräch mit Ulrike Timm · 07.09.2011
Schon nach 1989 habe man hoffen können, "dass sich nun auch in der arabischen Welt etwas bewegt", sagt der Islamwissenschaftler Stefan Weidner. Doch durch den 11. September 2001 sei die kleine Demokratiebewegung zurückgeworfen und die Repression verstärkt worden. Immerhin habe der 11. September "unsere Begegnung mit dem Islam intensiviert".
Ulrike Timm: Der 11. September 2001 hat eine tiefe, eine prägende Kerbe in das neue Jahrtausend gegraben, an die zehn Jahre später nicht nur erinnert wird – sie wird auch noch einmal neu überdacht. Was hat sich aus dem Attentat an Veränderungen ergeben und was bedeuten diese Veränderungen für das Verhältnis von islamischer und westlicher Welt? Diese Frage beschäftigt den Islamwissenschaftler Stefan Weidner immer wieder neu. Gerade ist sein Buch "Aufbruch in die Vernunft: Islamdebatten und islamische Welt zwischen 9/11 und den arabischen Revolutionen" erschienen. Herr Weidner, ich grüße Sie!

Stefan Weidner: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Weidner, dieser dichte Zusammenhang, der erstaunt ja erst mal. Was hat denn der Terror des 11. September mit den arabischen Revolutionen vom Beginn dieses Jahres wirklich zu tun?

Weidner: Also ich glaube, dass der 11. September 2001 wenn auch mit sozusagen zehnjähriger Verzögerung das Fass zum Überlaufen gebracht hat, was auch schon vor dem 11. September 2001 sehr, sehr voll gewesen ist. Immerhin ist es so gewesen, dass der 11. September zunächst einmal die Repression in der arabischen Welt, in der ganzen islamischen Welt verstärkt hat, die Repression gegenüber den freiheitlichen, demokratischen Bewegungen, da unter diesen Bewegungen, die sozusagen eine Veränderung der arabischen Regimes immer schon gewollt haben, auch die Islamisten waren.

Man hat nun vor allen Dingen nach dem 11. September erst mal die Gefahr durch die Islamisten gesehen, man hat die radikalisierten und gewaltbereiten Kräfte unter den Islamisten gesehen, und indem man diese Kräfte unterdrückt hat, indem die arabischen Regime mit kräftiger Hilfe des Westens diese Regime unterdrückt haben, in diesem Moment sind natürlich auch die anderen demokratischen Kräfte unterdrückt worden, die jetzt aber wieder an die Oberfläche gedrängt haben.

Timm: Nun hat der 11. September ja erst einmal für den Westen das Fass zum Überlaufen gebracht. Wenn Sie sagen, in den arabischen Staaten habe es eigentlich zu dieser Zeit schon so rumort, dass die Revolutionen Anfang dieses Jahres dadurch nur verzögert wurden, dann bedeutet das ja, dass die Revolutionen wirklich einen Humus haben in der breitesten Bevölkerung seit vielen Jahren. Ist das wirklich so?

Weidner: Unbedingt! Man merkt es daran, dass weite Teile der Bevölkerung seit Jahrzehnten wirtschaftlich nicht beteiligt worden sind am Reichtum vieler arabischer Länder, sie sind nicht beteiligt worden an der Macht, an der Bildung, an der Kultur insgesamt, und wir können – also ich bin ein Spezialist für arabische Literatur, und wir können wirklich an der arabischen Literatur seit den 60er-, 70er-Jahren immer wieder den Wunsch nach Freiheit, den Wunsch nach Aufbruch, den Wunsch nach politischer und sozialer Beteiligung herausspüren, das war überaus spürbar die ganze Zeit schon.

Und man hätte eigentlich hoffen können nach 1989, dass sich nun auch in der arabischen Welt etwas bewegt, und ein bisschen etwas hat sich tatsächlich auch bewegt, aber diese kleine Bewegung ist dann nach 2001 zurückgeworfen worden.

Und Sie haben einerseits Recht: Der 11. September hat das Fass bei uns zum Überlaufen gebracht, aber de facto hat er uns überhaupt erst mal auf die Probleme der arabischen Welt aufmerksam gemacht. Wir müssen sehen, dass wir die arabische Welt nicht wirklich als Problemfeld empfunden haben – und als Problemfeld heißt natürlich nicht nur, dass wir Angst vor dem Islam, vor den Islamisten haben müssen, sondern dass wir erst mal genau hinschauen: Wir haben uns gar nicht dafür interessiert.

Und im Grunde hat der 11. September ... Was er an positiven Wirkungen ja paradoxerweise auch hatte, ist ein gesteigertes Interesse des Westens an der islamischen Welt. Das hat sich erst mal zum Negativen ausgewirkt in Form eines Interesses als Angst vor der islamischen Welt, aber es hat natürlich auch zum viel genaueren Hinschauen gegenüber der islamischen Welt geführt, und das ist letztlich auch etwas Positives.

Timm: Nun waren ja die letzten zehn Jahre in der Politik des Westens vor allem geprägt durch die Angst vor islamistischen Attacken. Wie hat sich denn das widergespiegelt im Verhältnis des Westens und der islamischen Staaten, wie hat sich das gegenseitig, ja, befeuert ist ein schlimmes Wort, aber eigentlich kann man es so benutzen?

Weidner: Ja, also der 11. September hat in dieser Hinsicht zu einer Polarisierung geführt. Wir müssen sehen, dass die ganzen Positionen in unseren Islamdebatten, viele Elemente der Islamfeindschaft natürlich auch schon vorher da waren. Das sind alles keine neuen Positionen gewesen, aber die Angst vor dem Islam ist praktisch in die gesellschaftliche Mitte gerückt, sie ist sozusagen konsensfähig geworden und sie hat ja sogar dazu geführt, dass politische Parteien davon profitieren konnten.

Also in dem Sinne hat der 11. September unsere Begegnung mit dem Islam polarisiert, aber er hat sie gleichzeitig auch intensiviert. In dem Moment, wo sozusagen die Angst vor dem Islam zunahm, nahmen natürlich auch die Stimmen zu, die sozusagen differenziert haben, die erklärt haben, was überhaupt in der islamischen Welt los ist, und wir haben sozusagen erst jetzt, nach dem 11. September, ein Gefühl dafür bekommen, dass da etwas schief ist.

Also die militärischen Eingriffe im Irak und in Afghanistan sind ja nicht nur brutale militärische Eingriffe gewesen, sondern die hatten tatsächlich natürlich auch den Anspruch, die Situation in der islamischen Welt zu verbessern, in Irak, in Afghanistan. Man wollte durchaus etwas zum Positiven bewegen, und es gibt viele Iraker, die den Sturz Saddam Husseins natürlich begrüßt haben. Die ganze Sache ist dann aus dem Ruder gelaufen, es ist nicht das geschehen, was wir uns erwünscht hätten, aber das, was wir uns gewünscht haben, ist nun, zehn Jahre später, seit Anfang dieses Jahres in der arabischen Welt von alleine – eben nicht mit westlicher Beteiligung – entstanden.

Und das ist sehr interessant, dass das, was wir eigentlich bewirken wollten in Irak und Afghanistan, haben nun die arabischen Völker sich selbst auf die Fahnen geschrieben und wollen es selbst durchführen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Stefan Weidner. Herr Weidner, wenn im arabischen Raum mit den Demokratiebewegungen tatsächlich ein Aufbruch in die Vernunft, so Ihr Buchtitel, wenn der wirklich gelingen sollte, hätten dann westliche Werte gewonnen?

Weidner: Sozusagen ja, wenn es ... Also, nur sind diese westlichen Werte ja keine per se westlichen Werte, sondern es sind eigentlich universelle Werte, es sind Werte, die wir uns besonders auf die Fahnen schreiben, die aber doch eigentlich universell sind. Auch jeder Muslim, selbst ein Islamist, selbst ein radikaler Muslim ist an den Menschenrechten interessiert, auch er ist daran interessiert, dass seine Menschenrechte gewahrt werden.

Natürlich sieht er das ein bisschen anders, er interpretiert die Frauenrechte anders, aber wir müssen uns erinnern, dass auch wir bis weit in die 70er-Jahre die Frauenrechte noch nicht so freiheitlich interpretiert haben, wie das heute der Fall ist. Jeder Muslim, ob gläubig oder nicht, ist daran interessiert, eine politische Teilhabe zu haben, ist daran interessiert, wirtschaftlich teilhaben zu können, eine gute Ausbildung zu erlangen, ist daran interessiert, seine Kultur frei pflegen zu können – und in dem Sinne sind die westlichen Werte universale Werte. Und als universale Werte können sich auch die Muslime diese Werte auf die Fahnen schreiben, ohne sich vorwerfen lassen zu müssen, einfach nur verwestlicht zu sein.

Timm: Herr Weidner, nun stehen wir zehn Jahre nach 9/11 am Beginn einer möglichen demokratischen Entwicklung im arabischen Raum, über deren Ausgang sich derzeit noch nicht so viel sagen lässt. Sie haben einen sehr optimistischen Blick darauf, aber an welchem Punkt stehen wir jetzt eigentlich im Moment?

Weidner: Ich glaube, wir stehen in diesem Kippmoment. Die arabischen Staaten, vor allen Dingen Tunesien und Ägypten, bei denen es ja am Weitesten geht, stehen kurz vor den Wahlen. Wir müssen sehen, was dann passiert. Libyen muss sich erst konstituieren, der Jemen ist auf der Kippe und in Syrien ist alles offen und es geht sehr brutal dort zu.

Wenn Sie sagen, ich bin optimistisch, dann stimmt das, aber ich bin auch kein Träumer, also wir müssen realistisch bleiben. Wir werden mindestens ein Jahrzehnt von Ungewissheiten, von eventuell auch großen Kämpfen, von teilweise auch Gewaltanwendung erleben, und das Ergebnis wird dann natürlich nicht so etwas sein wie Osteuropa nach 1989, einfach weil die unterstützenden Staaten fehlen. Also Osteuropa ist ja intensiv gefördert worden von der Europäischen Union.

So sehr werden die arabischen Staaten, auch, wenn wir uns Mühe geben, nicht gefördert werden. Und ich sehe am Ende dieser Epoche eher eine Entwicklung, wie wir sie zum Beispiel in Lateinamerika beobachten können oder in bestimmten südasiatischen Staaten, meinetwegen Thailand, Korea, Singapur, Indonesien. Ich sehe eher eine solche Entwicklung als eine Entwicklung, wie wir sie uns vielleicht erträumen, die von einer Prosperität ausgehen nach dem Motto, dass es am südlichen Mittelmeerraum so aussieht wie jetzt in Osteuropa. Das, denke ich, wird so bald nicht der Fall sein.

Timm: Das klingt auch nach einem ganz langen Weg, denn die Demokratiebewegungen im arabischen Raum, in Tunesien, in Ägypten haben ja auch naturgemäß derzeit wenig Struktur, das konnten die Leute dort gar nicht entwickeln, das heißt aber auch: Das ist alles noch sehr am Wanken. Und die Wirtschaft – Ägypten, Tunesien, der Tourismus – liegt am Boden, also die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen sind alles andere als günstig. Was wäre denn jetzt an politischem Handeln nötig, auch von westlicher Seite?

Weidner: Wichtig ist eine neue Normalisierung der Beziehungen, wichtig ist, dass wir die Wirtschaftsbeziehungen, die wir zu diesen Staaten ja schon hatten, intensivieren, dass wir die Wirtschaftsbeziehungen fördern, etwa durch Kreditgewährleistungen. Eine Firma, die investiert, meinetwegen in Tunesien, soll nicht Gefahr laufen, dass sie sehr große Mittel verlieren kann, wenn jetzt etwas schiefgeht. So können wir das fördern.

Wir müssen das unbedingt fördern im Bildungsbereich, im Kultursektor, wir müssen uns wehren gegen die Unterwanderung der Demokratiebewegung durch vor allen Dingen Saudi-Arabien, die Salafiten, also durch den radikalen Islam, der ja sehr aktiv ist, der sehr viele Mittel hat, die ganzen Petrodollars wandern in die Unterstützung dieser radikalen Bewegungen, und dem muss der Westen entgegenwirken.

Ich sehe da aber sehr, sehr große Chancen, denn die meisten Menschen in der arabischen Welt, die sich heute befreien wollen oder befreit haben, haben kein Interesse, in eine islamistische Diktatur abzugleiten, sondern sie wollen wirklich eine offene Gesellschaft, in der der Islam – vielleicht auch ein radikalerer Islam hier und da an den Rändern – seinen Platz haben wird, der aber nicht dominant sein soll. Und wir können dazu beitragen, indem wir eben kulturell und wirtschaftlich den allergrößten Input hineingeben. Es ist auch für unsere Sicherheit das Beste, was wir tun können.

Timm: Das meint der Islamwissenschaftler Stefan Weidner im Deutschlandradio Kultur.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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