Wider die Klischees

Von Reinhard Spiegelhauer · 07.05.2012
Die spanische Wirtschaft sei nicht wettbewerbsfähig, heißt es. Tatsächlich jedoch gelten Spaniens Talgo-Hochgeschwindigkeitszüge als vorbildlich, in Andalusien steht das modernste Thermosolar-Kraftwerk der Welt, und in den Naturwissenschaften spielen Spanier in der ersten Liga mit.
"Wir sind hier in der Fabrik 'Las Matas 2', wo die Waggons und Lokomotiven von Talgo gebaut werden."

Eine riesige, lichte Halle ist es, in der wir stehen. Linker Hand sind lange Reihen von Waggonrädern hintereinander aufgereiht, sie sollen per Infrarot und Ultraschall auf Verschleiß untersucht werden. Durch die andere Hallenhälfte ziehen sich vier in den Boden eingelassene Gleise. Mehrere Wagenkästen stehen dort, es wird geflext und gehämmert. Die Wagen werden gerade modernisiert, erklärt Enrique Riesco, Verkaufsdirektor bei Talgo:

"Talgo ist ein sehr innovatives Unternehmen, das immer Lösungen sucht für die Bedürfnisse des Marktes. Schon in seinen Anfängen, 1942, hat der Ingenieur Goicoechea ein Design entwickelt, das ungewöhnlich und einzigartig ist, aber auf dem Markt für Schienenfahrzeuge große Vorteile bietet."

Bis heute basieren alle Züge von Talgo letztlich auf diesem Design - auch wenn es natürlich stets weiter entwickelt und verfeinert wird. Das Konzept und sein Erfinder stecken auch im Namen des Unternehmens, Talgo. Das Akronym steht für Tren Articulado Ligero Goicoechea Oriol, zu Deutsch: Leichter Gliederzug Goicoechea Oriol - wobei Alejandro Goicoechea der Tüftler und José Luis Oriol der Finanzier der ersten Prototypen waren. Die entscheidende Besonderheit ist, dass die Waggons nicht auf zwei normalen Drehgestellen mit insgesamt vier Achsen ruhen. Stattdessen gibt es jeweils nur eine einzige Achse unterhalb des Übergangs, auf die sich zwei Waggons gleichzeitig abstützen. Das Prinzip bietet eine Menge Vorteile - der grundlegende: Weil keine schweren Drehgestelle und viel weniger Räder verbaut werden, ist ein Talgo-Zug wesentlich leichter als ein Zug mit herkömmlichen Wagen. Aber nicht nur das - der Vorteil für die Reisenden ist zusätzlicher Komfort:

"Eine Eigenschaft der Wagen ist, dass sie kürzer sind, als konventionelle Waggons, weil sie nur eine gemeinsame Achse haben. Heute, wo die Leute ständig mit dem Handy telefonieren, ist es zum Beispiel angenehmer, wenn weniger Fahrgäste in einem Wagen sitzen. Und weil die Räder auch noch einzeln aufgehängt sind, haben wir einen ganz durchgehenden, tief liegenden Wagenboden. In ganz Europa liegen die Bahnsteige für Hochgeschwindigkeitszüge 760 Millimeter über den Gleisen - und auf genau der Höhe liegt der Boden des Talgo-Zuges."

Das bedeutet: Beim Ein- und Aussteigen muss man über keine Stufe steigen, kann den Koffer problemlos in den Wagen ziehen. Das war eines der entscheidenden Verkaufsargumente von Talgo in Saudi Arabien. Ein spanisches Konsortium soll dort eine 450 Kilometer lange Hochgeschwindigkeitsrasse zwischen Medina und Mekka bauen, bis zu 160.000 Mekka-Pilger sollen sie täglich nutzen. Talgo liefert die 35 Züge dafür - und hat sich in der Ausschreibung gegen die Hersteller des französischen TGV und des deutschen ICE durchgesetzt, sagt Verkaufsdirektor Riesco stolz:

"Es gab spezielle Anforderungen, zum Beispiel, dass die Züge 450 Passagiere samt ungewöhnlich großen Koffern befördern können müssen. Es geht ja um Pilger, die nach Medina oder Mekka wollen und vergleichen mit europäischen Verhältnissen viel größere Koffer und Kleiderbündel mithaben - wir haben das Design dahingehend überarbeitet. Und natürlich muss man bedenken, dass viele Pilger ältere Leute sind. Und da ist es bei einem Talgo eben viel leichter, ein- und auszusteigen, als bei einem normalen Zug."

Dabei gilt das Gliederzug-System sogar als sicherer als Züge aus normal aneinander gekuppelten Wagen, besonders falls ein Zug beispielsweise wegen einer schadhaften Schiene entgleisen sollte: die Wagen fallen nicht so leicht um. Und auch in Sachen Tempo ist Talgo ganz vorne mit dabei: angetrieben werden die Talgo-Hochgeschwindigkeitszüge von zwei Triebköpfen vorne und hinten. Auf spanischen Hochgeschwindigkeitsstrecken fahren sie derzeit mit 300 Stundenkilometern - ausgelegt sind sie für Tempo 350. Berühmt sind die Züge auch wegen der auffälligen Form der Triebköpfe: in Spanien nennt man sie "Pato", "Ente" - denn die Spitze ist geformt wie ein Entenschnabel. Die "Patos" sind die modernsten Züge der spanischen Staatsbahn Renfe, die auch modifizierte ICE und TGV Triebwagen einsetzt. Die Fahrt von Madrid nach Barcelona dauert ohne Halt nur zweieinhalb Stunden - die Fluggesellschaften haben die Hälfte ihrer Passagiere auf dieser Verbindung verloren.

Von Barcelona aus kommt man in ein paar Minuten in die Trabantenstadt Badalona. Etwas oberhalb auf einem kleinen Gebirgsrücken liegt die Universitätsklinik. Und in einem der Gebäude ist auch das IRSICAIXA Aids-Forschungsinstitut untergebracht.

"Was man hier sieht, ist ein normaler Arbeitsbereich, mit Bürobereichen, Computern und so weiter. Der Rest des Instituts ist der Laborbereich, dort haben wir ein Klasse-3- Hochsicherheitslabor. Dort können wir nicht hinein, aber es gibt ein Kontrollfenster, um hineinzusehen. Es ist wohl das größte Labor dieser Art in Europa."

300 Quadratmeter groß ist das Labor, hat zwölf separate Arbeitsbereiche und im Inneren herrscht ein leichter Unterdruck - damit eventuell frei werdende Viren in jedem Fall im Inneren bleiben. Professor Javier Martinez-Picado leitet eine Arbeitsgruppe, die untersucht, wie das HI-Virus, das Aids verursacht, menschliche Zellen befällt und sich von Zelle zu Zelle verbreitet.

"Unser Ziel ist es, Erkenntnisse zu gewinnen und mit der Entwicklung von Therapien oder einer Impfung voran zu kommen, die Menschen mit dieser Infektion helfen - oder auch mit anderen Krankheiten. Denn ein interessanter Punkt unserer jüngsten Entdeckung ist, dass mit Sicherheit auch andere Viren diese Moleküle tragen."

Über ‚diese Moleküle‘ hat die Arbeitsgruppe von Professor Martínez gerade einen Artikel in einem Fachmagazin veröffentlicht. Die Forscher hoffen, damit einen neuen Ansatz im Kampf gegen die Aids-Krankheit gefunden zu haben. Es geht um bestimmt fettartige Bestandteile des Virus, die - wie die Arbeitsgruppe herausgefunden hat - wichtig sind, damit das HI-Virus in Zellen eindringen kann. Vielleicht führt diese Entdeckung zu Medikamenten mit einem neuen Wirkprinzip, das auch greift, wenn bisherige Medikamente versagen, sagt Nuria Izquierdo-Useros. Sie hat viele Stunden in ihrem unbequemen zweilagigen Schutzanzug im Labor gestanden, und Virenkulturen untersucht:

"Sie würden an Virenmolekülen ansetzen, die die heutigen Wirkstoffe außer Acht lassen. Wir hoffen, dass man in der Zukunft Medikamente entwickeln kann, die diese Aktivität dieser Lipidmoleküle behindern. Wenn das gelingt, dann setzen sie an Virenbestandteilen an, die weniger stark mutieren, als die Angriffspunkte für heutige Medikamente. Rein hypothetisch bedeutet das, dass die Gefahr geringer wäre, dass die Viren gegen das neue Medikament resistent werden."

Bis ein neues Medikament auf den Markt kommen könnte, wird es aber mindestens 10 bis 15 Jahre dauern - der Teufel liegt im Detail, klinischen Studien und Zulassungsverfahren. Vier der elf Forscherinnen und Forscher, die den Fachartikel gemeinsam verfasst haben, arbeiten übrigens in Labors in Heidelberg.

Fachsprache ist ohnehin englisch - und das Klischee, Spanier sprächen überhaupt keine Fremdsprachen, stimmt nicht mehr. Costa Brava Urlauber kämen aber wahrscheinlich nicht auf die Idee, dass nur 50 Kilometer entfernt medizinische Spitzenforschung betrieben wird, sagt Professor Martinez und lächelt:

"Das hat wohl mit Klischees zu tun, die die Deutschen über Spanien haben, so wie wir Spanier sie über andere Länder haben - und das ist oft nicht leicht zu überwinden. Davon abgesehen haben wir mit den vielen Gastwissenschaftlern aus unterschiedlichen Ländern bei uns die besten Erfahrungen gemacht. Ich glaube auch für sie war es eine gute Erfahrung. Viele waren wohl überrascht, wie qualifiziert unsere Leute sind und wie gut ausgestattet wir sind."

Das IRSICAIXA Aids-Forschungsinstitut ist eine gemeinnützige Stiftung - derzeit beherbergt es sieben Forschergruppen. Einzelne Projekte werden von außen gefördert - die jüngste Studie zum Beispiel mit Mitteln aus dem nationalen Forschungs- und Innovationsplan, den Auslandsaufenthalt spanischer Wissenschaftler in Deutschland hat das Bildungsministerium gefördert. Im Zuge der Sparmaßnahmen hat die Regierung allerdings gerade die Haushaltsmittel für Forschung, Entwicklung und Innovation drastisch gekürzt - das sei strategisch kurzsichtig klagt die Wissenschaftsgemeinde, ohne sich dabei jedoch große Hoffnungen auf eine Korrektur zu machen:

"Ich denke, die wenigsten Leute nehmen Forschung von sich aus als etwas Wichtiges wahr. Wenn man das Thema auf den Tisch bringt, stimmen alle zu, dass sie wichtig ist, und kein Politiker würde widersprechen, dann das wäre politisch unkorrekt. Aber so ganz spontan ist es bestimmt nichts, was die Wahlentscheidung der Menschen beeinflusst. Sehr, sehr wenige Leute stellen da die Frage ‚wie steht es in diesem Land eigentlich um die Forschung`?"

Dabei sind HighTech wie bei Talgo und medizinische Forschung wie im Aids-Institut Beispiele dafür, wie ein modern ausgerichtetes Spanien in einer Post-Immobilienblasen-Welt erfolgreich sein könnte. Genauso wie die Gemasolar-Anlage, mitten im einsamen Hinterland Andalusiens. Denn dieses Kraftwerk ist nicht nur "noch ein Solarkraftwerk" - seine Technologie ist revolutionär, der Anblick spektakulär: rund um einen 140 Meter hohen Betonturm stehen auf einer kreisförmigen Fläche mit rund eineinhalb Kilometern Durchmesser mehr als 2500 Reflektoren. Sie werfen das Sonnenlicht auf einen Bereich am oberen Ende des Turms, der wie eine künstliche Sonne zu strahlen scheint - in einem derart kräftigen, reinen Weiß, dass man eine Schutzbrille aufsetzen sollte, wenn man ihn länger als ein paar Sekunden beobachten will:

"Es sieht so aus, als ob auf diesen weißen Ringen oberhalb und unterhalb des eigentlichen Rezeptorbereichs die meiste Energie auftreffen würde - aber das ist eine optische Täuschung. Der Rezeptor selbst ist schwarz und strahlt kaum ab, darüber und darunter sind weiße Isolatoren, die möglichst viel Licht reflektieren und wenig Wärme entwickeln."

Ohne diese Isolatoren würde der Turm zerstört, sagt Ingenieur Santiago Arias - denn das gebündelte Sonnenlicht heizt das Innere des Rezeptors auf mehr als 550 Grad Celsius auf. Denn das Gemasolar-Kraftwerk ist ein so genanntes Thermosolarkraftwerk - das heißt, die Sonnenenergie wird nicht direkt in Strom umgewandelt, sondern in Hitze. Mit dieser Hitze wird Dampf erzeugt, der Turbinen und Generatoren antreibt, um Strom zu erzeugen. Das Einzigartige an dieser Anlage ist aber, dass durch den Rezeptor im Turm eine Salzlösung gepumpt wird, die die Wärmeenergie aufnehmen, und vor allem: speichern kann - in großen, gut isolierten Tanks:

"Wir sind hier jetzt im Herzstück dieser Kraftwerksanlage, wo das Salz gespeichert wird. Wenn du willst, gehen wir mal hin und fassen den Tank an. Du merkst, dass er sich etwas warm anfühlt - aber die Energie, die der Tank verliert liegt im Bereich von einigen Kilowatt - gespeichert haben wir darin Millionen von Kilowattstunden. Wenn der Tank erst einmal einen Füllstand von zwei, drei Metern hat, benötigt die Anlage kein Sonnenlicht mehr - sie kann Strom aus der in diesem Tank gespeicherten Energie erzeugen."

Fast 15.000 Liter fasst der Speichertank - genug, um 15 Stunden lang heiße Salzlösung durch die Wärmetauscher zu schicken, die Dampf für die Generatorturbinen erzeugen. Das Kraftwerk kann so rund um die Uhr, Tag und Nacht, für rund 10.000 Haushalte Strom aus Sonnenenergie liefern - muss es aber nicht, sagt Santiago Arias lächelnd:

"Das Elegante dieser Anlage im Vergleich mit den anderen Solarkraftwerken in der Welt ist, dass wir selbst entscheiden können, wann wir die gespeicherte Sonnenenergie in Strom für die Verbraucher umwandeln."

Die Anlage kann so zum Beispiel auch gezielt in Spitzenzeiten Strom produzieren. Entworfen und gebaut hat das Kraftwerk der spanische Anlagenbauer Sener, er will die Technologie in den kommenden Jahren weiter entwickeln. In Spanien allerdings ist vorläufig kein Platz für weitere Anlagen, denn der Staat hat die Förderung für Solarenergie gedeckelt - und auch wenn Gemasolar hochmodern ist: die Stromproduktion dort rechnet sich nur dank Subventionen. An der Betreibergesellschaft ist übrigens der Masdar Energiekonzern aus Abu Dhabi beteiligt. Die Araber sind sehr interessiert an der neuen Technologie "made in Spain", denn sie wollen gerüstet sein für die Zeit nach dem Öl…