"Wichtig für die Glaubwürdigkeit des Systems"

Hamed Abdel-Samad im Gespräch mit Marcus Pindur · 03.08.2011
Der Publizist und Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad hält den Prozess gegen den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak für bedeutend. Es gehe auch um Schießbefehle gegen Demonstranten.
Marcus Pindur: Wie lange kann ein Gewaltstaat Krieg gegen die eigenen Bürger führen. Noch kann sich der syrische Präsident Assad an der Macht halten, noch verfügt sein Regime über Kampfkraft und Rückhalt.

Immer wieder rücken Kampfpanzer in Städte ein, es kommt zu Blutvergießen, und viele fragen sich: Wie lange kann aber eine Gewaltherrschaft das durchhalten? Diese Frage ist in Ägypten zum Glück beantwortet. Ex-Präsident Mubarak muss sich ab heute vor Gericht verantworten.

Wir sprechen jetzt mit dem Politikwissenschaftler und Publizisten Hamed Abdel-Samad. Er hat gerade ein Buch über den arabischen Frühling geschrieben, der Titel: "Krieg und Frieden", es erscheint im Oktober. Guten Morgen, Herr Abdel-Samad!

Hamed Abdel-Samad: Guten Morgen!

Pindur: Es hat in den letzten Wochen in Ägypten immer wieder Demonstrationen gegeben, weil man befürchtet, dass der Militärrat den Übergang zu Demokratie und freien Wahlen verschleppt. Haben Sie auch diesen Eindruck?

Abdel-Samad: Ja. Es gab in den letzten Monaten mehrere Großdemonstrationen – Millionenmärsche sogar –, weil die Menschen unzufrieden sind und spüren, dass sich nichts verändert hat. Die Anhänger des alten Regimes sitzen nach wie vor an den wichtigsten Schaltstellen der Macht im Lande, und die wirtschaftliche Situation hat sich nicht verbessert. Viele Menschen sind natürlich auch ungeduldig und wollen die Früchte der Revolution ernten, bevor die Saat sich im Boden richtig etabliert hat.

Pindur: Die Mehrheit der Minister der Übergangsregierung gehörte auch der alten Regierung an. Wie bewerten Sie diese Kontinuität? Gibt das nicht Anlass zu großer Sorge?

Abdel-Samad: Ja, die Sorge ist da. Der Militärrat muss einen Spagat aufrechterhalten. Zum einen will der Militärrat zeigen, dass er auf der Seite der Demonstranten, Revolution ist, zum Anderen ist dieser Militärrat auch ein Apparat des alten Regimes. Alle diese 19 Männer wurden von Mubarak persönlich ausgesucht, aufgezüchtet sozusagen, und sie haben auch eine gewisse Loyalität ihm gegenüber. Aber ich glaube, langfristig kann der Militärrat sich das nicht leisten, weil die Wut ist größer geworden in der Bevölkerung.

Pindur: Es war ja auch immer die Frage: Wie bilden sich jetzt die Parteien heraus, die gesellschaftlichen Gruppen, die dann auch den notwendigen Dialog führen müssen miteinander, wie es weitergehen soll in Ägypten. Ist davon schon mehr zu sehen, von der Entwicklung der Zivilgesellschaft?

Abdel-Samad: Es gibt eine Menge Arbeit in dieser Hinsicht. Wir haben mittlerweile 44 neue Parteien, die sich gegründet haben seit der Revolution, nur in 6 Monaten! Aber die sind relativ unbekannt, und sie brauchen Zeit, um auch ihre Basis überall in Ägypten aufzubauen – das Land ist groß! –, und das ist ein demokratisches Experiment, braucht Zeit und braucht Geduld.

Pindur: Wo sehen Sie denn die größten Hindernisse derzeit für die Entwicklung der Demokratie in Ägypten?

Abdel-Samad: Es gibt drei Hauptschwierigkeiten: Erst mal die verfahrene wirtschaftliche Situation. Ägypten lebt ja vom Tourismus und vom Suezkanal hauptsächlich, und im Moment kommen wenige Touristen nach Ägypten, die Einnahmequellen schrumpfen, und die Menschen müssen trotzdem leben. Zweitens haben wir die Spannungen zwischen Kopten und Muslimen, die sehr problematisch sein könnten für die Stabilität des Landes, und drittens – das ist natürlich das Wichtigste –, die Demokratiedefizite, die es immer gab im Lande, die Mentalität, die Strukturen, man braucht unglaublich viel Zeit, um das überhaupt wieder in Ordnung zu bringen.

Pindur: Glauben Sie, dass der Prozess gegen Mubarak, der heute eröffnet werden soll, dass der auch für die politische Kultur Ägyptens so eine reinigende Funktion haben könnte, weil dann ja vieles von dem angesprochen werden müsste, was auch derzeit noch im Argen liegt in Ägypten?

Abdel-Samad: Ja, Stichwort Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit. Zum Einen ist es wichtig für die Etablierung der Rechtsstaatlichkeit, dass die Führungskräfte des alten Regimes, die etwas verbrochen haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu gehört auch Mubarak – es geht nicht nur um Machtmissbrauch und Veruntreuung von Staatsgeldern, sondern um Schießbefehle gegen Demonstranten.

Es ist nicht zu fassen, dass es 900 Todesopfer gab und 9000 Verletzte, darunter 1200 junge Frauen und Männer, die das Augenlicht verloren haben, und trotzdem stand bis jetzt niemand vor Gericht! Es ist also wichtig für die Glaubwürdigkeit des Staates, für die Etablierung der Rechtsstaatlichkeit und für die Aufklärung, damit man weiß, wohin die Gelder gegangen sind, und wer dafür verantwortlich ist – und wer die Schießbefehle gegeben hat!

Pindur: Stimmt Sie das denn – wenn Sie sich das anschauen, dass da noch nichts passiert ist bei der Aufarbeitung – stimmt Sie das denn hoffnungsvoll für die Entwicklung der ägyptischen Demokratie?

Abdel-Samad: Ich würde sagen, das Land befindet sich in einer chaotischen Transformationsphase, und das ist natürlich nach so einem Umbruch: Man kann nicht erwarten, dass alle Demokratiedefizite im Lande sechs Monate nach dem Sturz Mubaraks nun sofort beseitigt werden. Es gibt ein Tauziehen zwischen Militärrat und Demokratiebewegung, zwischen Liberalen, Islamisten und Linken und Konservativen – der innere Kulturkampf oder Kampf der Kulturen findet gerade statt in Ägypten, und das ist ganz normal. Blicken wir zurück: Sechs Monate nach Ausbruch der Französischen Revolution zum Beispiel hatten die auch Chaos. Man kann nicht erwarten, dass innerhalb von sechs Monaten alles perfekt läuft.

Pindur: Was denken Sie denn, was wir Deutsche oder auch die Europäer, die EU vielleicht insgesamt dazu beitragen können, dass sich die Zivilgesellschaft in Ägypten positiv vorwärts entwickelt?

Abdel-Samad: Politisch kann man leider wenig tun, und man sollte aus europäischer Sicht sich politisch zurückhalten. Aber ökonomisch wirtschaftlich kann man eine Menge tun. Eine zivile Gesellschaft kann nur etabliert werden durch die Etablierung einer funktionierenden Wirtschaft: Investitionen, neue Fabriken, Ausbildungsplätze für Menschen, Arbeitsplätze für junge Menschen. Und damit meine ich nicht Almosen aus Europa, sondern einfach richtige Investitionen, die auch für die europäische Wirtschaft von Bedeutung sein könnten.

Pindur: Schauen wir zum Schluss noch mal kurz nach Syrien. Die UNO scheint handlungsunfähig zu sein, dort wird verhandelt, aber Russland und China blockieren eine Resolution gegen das Assad-Regime. Was kann man denn da tun, um der syrischen Freiheitsbewegung zu helfen?

Abdel-Samad: Es ist zum Verzweifeln. Ich habe Freunde in Syrien, die mir verzweifelte Briefe schreiben. Sie fühlen sich von der Welt vergessen. Es ist unfassbar, wie man mit diesem Diktator umgeht – überhaupt mit allen Diktatoren umgeht. Es gibt in der Tat viele Leute, die nach wie vor auf Assad setzen und die denken und glauben, dass er tatsächlich Reformen auf den Weg bringen kann. Er will nur Zeit gewinnen, bis die Reformbewegung, die Demokratiebewegung im Lande oder bis die Demonstranten ausbluten.

Man kann ja nicht behaupten, dass alle, die auf die Straße gehen, zu der Demokratiebewegung gehören, aber es ist legitim, dass man so einen Diktator nach langer Phase der Diktatur auch los wird. Aus europäischer Sicht kann man wieder wenig tun, wenn die Chinesen und die Russen das nicht wollen. Und was kann Deutschland tun? Zum zweiten Mal sich enthalten im UNO-Sicherheitsrat? Wahrscheinlich ist das das Höchste, was man von Deutschland erwarten kann!

Pindur: Herr Abdel-Samad, vielen Dank für das Gespräch!

Abdel-Samad: Ich bedanke mich!

Pindur: Der Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad, er hat gerade ein Buch über den arabischen Frühling geschrieben, der Titel "Krieg und Frieden". Es wird im Oktober erscheinen.


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