"Wer sollte da handeln, wenn nicht eine Stadt wie Berlin?"

Jessica Groß im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 20.03.2009
Jessica Groß, Mitarbeiterin vom Berliner Medibüro für medizinische Flüchtlingshilfe, hält es für notwendig, Menschen ohne Aufenthaltspapiere unbürokratische Hilfe anzubieten. Derzeit würden viele Flüchtlinge erst bei einem fortgeschrittenen Krankheitszustand zum Arzt gehen, was dann eine sehr aufwendige und teure Behandlung erfordere, bemängelte Groß und hofft, dass der Berliner Senat die Initiative ergreift.
Klaus Pokatzky: Im Studio begrüße ich nun Jessica Groß. Frau Groß, Sie sind Ärztin, Sie arbeiten im Berliner Medibüro mit, das ist das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe. Und das fordert einen anonymen Krankenschein für Menschen ohne Aufenthaltspapiere, einen Krankenschein, der auch nicht vom Sozialamt vergeben werden soll. Wie würde das mit dem anonymen Krankenschein denn genau funktionieren?

Jessica Groß: Die Idee hinter dem Konzept ist, dass die Krankenscheinvergabe geregelt werden soll über eine ärztlich geleitete Stelle. Das ist zurzeit auch so, was das Sozialamt betrifft. Ärzte und Ärztinnen sind auch heute schon nicht mitteilungspflichtig, weil sie unter die ärztliche Schweigepflicht fallen. Und die Idee, die dahintersteckt, ist, dass wenn man die Krankenscheine nicht im Sozialamt vergibt, sondern in einer ärztlich geleiteten Stelle, dass dann dieser ganze Prozess der Krankenscheinvergabe, auch der Erhebung der Krankengeschichte und der Erörterung, was ist für eine medizinische Behandlung überhaupt erforderlich, unter ärztlicher Leitung erfolgen würde.

Pokatzky: Sie, Frau Groß, als Medizinerin und jetzt eben auch engagiert in diesem Medizinbüro für Flüchtlingshilfe, können Sie einfach mal ein paar Beispiele nennen, ein oder zwei, damit dem Hörer auch wirklich klar ist, um welche Menschen geht es hier wirklich ganz genau, unter welchem seelischen Druck - abgesehen von den körperlichen Schmerzen, die die haben - handelt es sich hierbei?

Groß: Es gibt natürlich wenig jetzt statistische Untersuchungen zu dieser Patientengruppe, aber die Erfahrungen - nicht nur von uns, sondern auch von anderen Beratungsstellen, auch bundesweit - zeigen, dass die Menschen oft in einem fortgeschrittenen Krankheitszustand kommen. Also, wenn es um bösartige Tumore geht, dann oft dann, wenn der Tumor wirklich schon groß ist, und zum Beispiel bei Brustkrebs man schon sieht, dass er die Haut kaputt gemacht hat, oder auch bei Infektionskrankheiten dann zum Beispiel, wenn eine Tuberkulose - so einen Fall hatten wir - schon auf die Knochen gegangen ist und die Knochen kaputt gemacht hat.

Das erfordert dann eine wirklich aufwendige medizinische Behandlung, die auch teuer ist. Und da die Patienten dann in der Regel auch gar nicht mehr reisefähig sind, können sie auch nicht abgeschoben werden, und die Kosten werden dann ohnehin über das Sozialamt übernommen. Unsere Idee ist, den Betroffenen ein Angebot zu machen, auch gefahrlos vorher schon medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, damit es eben zu solchen Verschlechterungen, die dann natürlich auch Kosten nach sich ziehen, nicht kommt.

Pokatzky: Gab es so ein Beispiel aus Ihrer Arbeit, wo Sie als Ärztin geholfen haben, was für Sie so ein Schlüsselerlebnis war, wo Sie gesagt haben, mein Gott, das ist ja so fürchterlich bei dieser Frau oder bei diesem Mann, da muss wirklich sich was ändern von der bürokratischen Verfahrenspraxis?

Groß: Also, ich persönlich engagiere mich natürlich in dem Bereich, weil ich auch Ärztin bin und mir natürlich die Gesundheitsversorgung deshalb besonders am Herzen liegt. Aber ich komme sozusagen vonseiten meines Engagements her eigentlich aus der menschenrechtlichen Perspektive und aus der Geschichte der Antirassismus-Arbeit in Berlin.

Und da geht es mir und uns darum, dass die Inanspruchnahme von Menschenrechten halt nicht abhängig gemacht werden kann vom Aufenthaltsstatus. Und da ist mir natürlich als Ärztin gerade die Gesundheitsversorgung besonders wichtig. Aber da gab’s nicht ein Schlüsselerlebnis, sondern das ist eigentlich eine Grundhaltung.

Pokatzky: Ich spreche mit Jessica Groß über einen anonymen Krankenschein für die Menschen, die bei uns ohne gültige Aufenthaltspapiere leben. Frau Groß, Sie haben für den Berliner Senat ein ganzes Konzept entwickelt, was diesen anonymen Krankenschein betrifft. Wie würde das dann ganz konkret ablaufen in Zukunft, wenn sich dieses Konzept realisieren ließe?

Groß: Unsere Vorstellung, die wir in dem Konzept erarbeitet haben, ist die, dass die Menschen zu einer ärztlich geleiteten Anlaufstelle kommen, wo ihre Beschwerden erfragt werden und die gesamte Lebenssituation auch mit den Betroffenen besprochen wird. An diese Stelle sollte angegliedert sein auch eine Rechtsberatung, dass man auch schauen kann, gibt es Möglichkeiten, doch einen legalen Aufenthaltsstatus zu erreichen, gibt es legale Möglichkeiten der Finanzierung, was ist da möglich? Und die Abrechnung der Krankenscheine würde dann über das Sozialamt erfolgen, das heißt, die Ärzte können diese Krankenscheine, als hätten sie andere Patienten auch behandelt, beim Sozialamt einreichen.

Pokatzky: Würde das mehr kosten oder weniger als bisher?

Groß: Das würden die Kosten sein, die heutzutage schon im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes anfallen.

Pokatzky: Wie würde denn jetzt bei dieser Vorstellung, dass es im Grunde dann so eine Art Blankoscheck für bestimmte Personengruppen gäbe, wie würde denn da ein Missbrauch verhindert werden können?

Groß: Bei jeder Art von Sozialleistung müssen Sie über Missbrauch sprechen. Natürlich kann es das immer geben und das kann keine Sozialleistung komplett ausschließen.

Pokatzky: Das Land Berlin hat erklärt, dass es im Bundesrat eine Gesetzesinitiative einbringen will, die also die Gesundheitsversorgung von illegal Eingewanderten in Deutschland sichert und Ärzte wie Sie jetzt auch aus einer solchen rechtlichen Grauzone herausholt. Wie schätzen Sie denn da die Chancen, dass das wirklich politisch auch umgesetzt wird?

Groß: Also hier in Berlin kann ich’s nicht sagen, es steht auf der Kippe. Ich denke schon, dass die Senatsverwaltung und auch die Senatorin Lompscher da sehr, sehr offen für sind. Insofern ist das in Berlin eine Situation, die besser ist, als sie je vorher war. Früher war der Senat da sehr viel unflexibler, das Problem überhaupt anzuerkennen. Und wir wissen, dass die Problematik in vielen Städten besteht und viele Kommunen auch nach Lösungen suchen. Wir und auch der Berliner Senat schätzen das zurzeit eher so ein, dass auf Bundesebene da keine nachhaltige Änderung möglich sein wird. Deswegen muss auf lokaler Ebene gehandelt werden, und wer sollte da handeln, wenn nicht eine Stadt wie Berlin?

Pokatzky: Vielen Dank, Jessica Groß, vom Berliner Medibüro, dem Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, das einen anonymen Krankenschein für Menschen ohne Aufenthaltspapiere fordert.