Wenn Worte erschlagen

Von Astrid von Friesen · 01.07.2010
Die Logorrhoe nimmt zu. Kürzlich, auf Reisen, da war eine reizende junge Frau mit einem zweijährigen Sohn. Der aß manierlich und ruhig, zugleich aber litt er ganz offensichtlich. Denn seine Liebe verströmende Mutter redete volle 48 Minuten auf ihn ein. Sie kommentierte jeden seiner Handgriffe, überzog ihn mit Wortkaskaden, mit schrill klingenden Ermahnungen, dann wieder mit Lobeshymnen epischen Ausmaßes, sie zwitscherte, zeigte alle paar Sekunden hierhin und dorthin. Sie redete ohne Unterlass - und dabei konnte sie keinen wirklichen Kontakt mit ihrem Sohn herstellen.
Wir am Nebentisch fühlten uns – selbst in der Distanz – wie erschlagen, bedrängt, gepeinigt. Wären wir in der Familie solcher auditiven Körperverletzung ausgesetzt, würden wir aus Angst den Raum verlassen.

Aber ein Kind kann seine Mutter meist nicht verlassen, es ist ihr ausgeliefert. Wie schützt es sich? Es schließt seine inneren Ohren, stellt auf Durchzug, schweigt, um keine neuen Themen zu provozieren, duckt sich emotional weg, und wenn es kann, rennt es davon.

Und der Junge rannte, sobald sein Vater erschien. Der Kleine lief ihm entgegen und sofort in den entlegensten Winkel des Gartens, um dort – wohl beaufsichtigt – die Steinmauer zu untersuchen. Der Vater blieb gelassen zehn Schritte hinter ihm stehen, ließ ihn an der langen Leine liebevoller Aufmerksamkeit agieren und freute sich am Forscherdrang seines Sohnes. Dieser war inniglich mit dem Vater verbunden, wie seine Blicke zeigten, auch ohne Worte.

Die Mutter am Tisch wirkte zunächst irritiert, weil ihr Zuhör-Opfer verschwunden war, doch das hielt keine zwei Minuten an, denn sie tröstete sich sofort. Womit wohl? Natürlich mit ihrem Handy, in das sie nun zwitscherte.

Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Was lehrt es uns? Der weibliche Vorteil einer stärker ausgeprägten Sprach- und Sprechfähigkeit hat fatale Folgen: Stummgeredete Jungen und schweigende Männer, die sich vor verbaler weiblicher Überflutung an den Computer verkrümeln, in den Hobbykeller flüchten oder sich auf andere Weise verweigern.

Dieses logorrhoeische Verhalten ist offenbar nicht nur ein Merkmal vieler junger und älterer Frauen, es steht in einem Wechselverhältnis mit unserer Medien- und Kommunikationswelt. Handys sind ein Symbol für diese Redeflut. Lauscht man zwangsläufig fremden Gesprächen, erscheinen sie derart banal, ja sie doppeln die sowieso schon banale Realität, nach dem Motto: "Ich stehe jetzt vor deinem Haus, ich klinge jetzt, ich bin jetzt da...". In den Big-Brother-Containern wurde diese unerträgliche Verdopplung der Banalität zum Prinzip erhoben.

Was hat dies für Folgen? Bei dem kleinen Jungen wurde es deutlich: Er fand keinen Raum und bekam keine Zeit dafür, sich selbst zu fühlen, andere zu spüren, einfach nachzudenken. Denn jede Situation wurde kommentiert, zerredet, banalisiert. Es konnte sich nichts Eigenes unter dieser Redeglocke entwickeln. Der Redeschwall negiert den Kontakt, und das hat Langzeitfolgen für Männer und Frauen.

Das gilt auch für andere Medien, die pausenlos Realität abbilden: Wenn Fotohandys und Webseiten in Real- und Jetztzeit alles dokumentieren, wird all dies immer belangloser. So ist eine Wechselwirkung entstanden: Das logorrhoeische Verhalten in den Medien hat die Kommunikationsmuster vieler Menschen in den vergangenen Jahren bereits derart beeinflusst, dass es als flächendeckendes Phänomen beschrieben werden kann. Auditive Grenzen werden immer häufiger überschritten, das schafft Entwicklungsstörungen bei Kindern, es verstört Männer, aber auch Frauen, die in diesem Redefluss die anderen und sich selbst verlieren.

Astrid v. Friesen, Jahrgang 1953, ist Erziehungswissenschaftlerin, Journalistin und Autorin sowie Gestalt- und Traumatherapeutin in Dresden und Freiberg. Sie unterrichtet an der TU Bergakademie Freiberg und macht Lehrerfortbildung. Zwei ihrer letzten Bücher: "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener" (Psychosozialverlag 2000) sowie "Von Aggression bis Zärtlichkeit. Das Erziehungslexikon" (Kösel-Verlag 2003). Zuletzt erschien "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer" (Verlag Ellert & Richter 2006).