Wenn Wege sich trennen

Von Maria Riederer · 10.03.2012
Jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden, so die Statistik des Bundesinnenministeriums. Das Ende wird of als Scheitern erlebt, doch auch die Kirchen lassen die Beteiligten allzu oft allein. Manche Gemeinden, wie zum Beispiel in Aachen, bieten nun eine neue Art der Unterstützung an.
Dieses Geräusch ist das wohl eindrücklichste im Gottesdienst für Geschiedene und Getrennt Lebende in der Aachener Kirche St. Nikolaus – einer ökumenischen Citykirche. Ein großer Vorhang zerreißt von oben bis unten. Menschen gehen hindurch, fassen immer wieder in den fließenden Stoff und reißen ihn der Länge nach durch.

"Da war eine Tür aufgebaut mit einem Vorhang, und dort musste man sich hinter stellen und rausgehen und im Hinausgehen diesen Vorhang zerreißen. Das hat mich also unheimlich berührt, und so viel Gefühl in mir wachgerufen, also ich dachte, das Negative hast du jetzt zerrissen und hinter dir gelassen und ja, so hab ich das empfunden, das war also ganz unglaublich."

Auch Wochen nach dem Gottesdienst ist Sibylle Peters – der Name wurde geändert – noch tief berührt von dem, was sie dort erlebt hat. Sie ist Witwe und hat eine Trennung nach langjähriger Partnerschaft hinter sich. Obwohl sie sonst nicht regelmäßig zur Kirche geht, fühlte sie sich von dem Aushang sofort angesprochen, mit dem zum Gottesdienst für Menschen in Trennung eingeladen wurde.

"Ich war eigentlich mehr neugierig, ich hab am Anfang gedacht, naja, jetzt mal sehen, was auf Dich zukommt, weil man wusste ja gar nicht, wie läuft das ab - was macht das mit mir?"

"Dieser Gottesdienst ist auch keine Eucharistiefeier sondern eine liturgische Form, in der die Themen vor Gott getragen werden, die in einer solchen Situation von Verlassen werden oder Aktiv-Verlassen vorkommen, nämlich Trauer, Schmerz, Wut, Orientierungslosigkeit, aber auch eine große Sehnsucht nach Heilung und Getragen-Werden, ein Kraftschöpfen, nach vorne zu schauen und die Gewissheit, Gott möge diesen Schritt gutheißen, er möge mich begleiten auf diesem Weg."

Annette Lenders ist Sozialpädagogin und beim Bistum Aachen angestellt. Ihr Aufgabe ist die Arbeit mit Alleinerziehenden. Im Laufe der Jahre wurde ihr und ihren Kollegen immer deutlicher, dass sich etwas verändert in der Gesellschaft, und dass auch die Seelsorge in den Kirchengemeinden auf diese Veränderungen eingehen muss.

"Wir haben in der langen Arbeit mit alleinerziehenden Männern und Frauen immer eine seelsorgliche Begleitung gemacht, aber zunächst eben vorrangig im Einzelkontakt. Und dann kam uns die Idee, wir könnten doch mal versuchen, aus diesen Erfahrungen eine liturgische Form zu entwickeln, die es ermöglicht, vielleicht noch einmal besonders konzentriert zu erleben, dass diese Zusage - ich bin bei euch, alle Tage mit Leben füllen kann."

"In einem normalen Gemeinde-Gottesdienst sind natürlich auch getrennte und allein lebende Menschen herzlich willkommen, aber oft ist es so, dass die einzelnen Lebenssituationen gar nicht so zur Sprache kommen können, und deshalb ist dieses Gottesdienst-Konzept entstanden, was natürlich auch nur punktuell angeboten wird und vielleicht nur einmal jährlich für eine große Stadt, aber es zeigt sich, dass es ein fruchtbares, sinnvolles, neues Konzept ist."

Der Gottesdienst für Geschiedene und getrennt Lebende hat an diesem Samstag ungefähr 30 Menschen angelockt. Junge und ältere, viele Frauen und wenige Männer. Im Kirchenschiff sind Stationen aufgebaut, Tische mit Gegenständen, der Durchgang mit dem Vorhang, der für Ausbruch und Wut steht, Tücher und Kerzen. Das Vorbereitungsteam dieser Feier sind eine evangelische Pastorin und ihr männlicher Kollege, ein katholischer Priester und ein katholischer Laie - und eine Ordensschwester. Die ökumenische Feier ist nicht dazu da, das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und den Geschiedenen aufzugreifen. Dass es da Klärungsbedarf gibt, ist sicher. Hier geht es um etwas anderes. Pfarrerin Sylvia Engels und ihr ebenfalls evangelischer Kollege Armin Drack gehören zum Team. Sie möchten gerne die Menschen in den Blick nehmen, die – trotz aller Vorurteile auf beiden Seiten – die Kirche als Zufluchtsort in einer Krisensituation suchen. Sylvia Engels:

"Das sind Menschen, die auf jeden Fall ein Angebot wahrnehmen, das es in unserer Gesellschaft so weniger oder überhaupt nicht gibt, dass man wirklich im Kirchraum auch Erfahrungen, in denen man gerade steht, nämlich Trennung und Scheidung, gestalten kann. Also wirklich nach außen hin gestalten kann, so dass man mindestens für den Punkt mal etwas abschließen kann."

Armin Drack: "Bei einem Scheidungs- und Trennungsprozess ist ja ohnehin die Schwierigkeit, dass sich das zunächst mal unter dem Paar abspielt, dann aber die Familien betroffen sind, zum Teil behält man Freunde, aber die wissen selber vor lauter Verlegenheit gar nicht, wie man damit umgeht - dann aber diesen Akt zu begehen, so etwas öffentlich zu begehen, wie in einem Kirchenraum, das ist dann schon ne hohe Hürde einerseits, aber wer es dann nachgeht, erlebt mit den Stationen sehr spontan ein authentisches Gefühl oder Erlebnis, wo er oder sie sich andocken kann, und manche Station wird sofort angesteuert - also die Wutstation war in diesem Jahr ganz besonders stark, die Lichtstation ist immer sehr stark, weil dieses Licht zumindest als Hoffnungslicht sehr gesucht wird."

Ausgangspunkt für die in der Kirche aufgebauten Stationen ist diesmal die Exodus-Geschichte. Moses flieht mit seinem Volk aus der Gefangenschaft bei den Ägyptern und wagt sich in die Wüste. Dort überkommen ihn und seine Leute Zweifel, Hunger, die Versuchung, aufzugeben – aber sie haben auch immer wieder Erlebnisse, die neue Kraft und Hoffnung geben. In dieser Geschichte kann sicher jeder etwas finden, der einen Bruch und Aufbruch erlebt hat und sich nun auf einem steinigen Weg befindet. Nachdem Gebete, Musik und Lesungen aus dem Buch Exodus die Besucher eingestimmt haben, werden sie eingeladen, sich zu den Stationen zu begeben. Manche zögern, andere schreiten beherzt in die Mitte. Schließlich sind alle Gottesdienstbesucher im Kirchenraum unterwegs. Wer mit viel Schwung den Vorhang zerrissen hat, findet dann Stationen, die Gefühle von Bitterkeit und Hunger sinnlich erleben lassen.

"Die dritte Station war auch gut, das war Bitterkeit und Tränen, da war eine Schale mit Salzwasser und darin sollten wir dann so Chicorée-Blätter reinlegen und dann eben eintunken und dann in den Mund und das kauen, und das war so bitter, das war so entsetzlich, und man sollte es aber runterschlucken und das fand ich auch toll, einfach so die Bitterkeit weg - so, und jetzt geht's Dir wieder gut. Und dann die vierte, Manna, Nahrung in der Wüste, da hatte man Knäckebrot hingelegt, das sollte man essen, das war ja furchtbar trocken im Mund, und da hab ich den Gedanken gehabt: Der Mensch strebt danach, das Leben außerhalb seiner selbst zu finden, begreift nicht, dass das eigentlich nur in ihm sein kann. Aber das ist schwer, und das war ein Anstoß, da einfach drüber nachzudenken."

Vielen Teilnehmern sind die Gefühle, die da hochkommen, deutlich anzusehen. Einige weinen, manche nehmen sich gegenseitig in den Arm. Manche bleiben an einer Station lange stehen, andere gehen den ganzen Parcours, vom zerrissenen Vorhang bis zu dem Tisch mit einer Schale süßer Trauben.

"Da lagen also Trauben, keine verbotenen Früchte, sondern eben süße Früchte, die ich mir auch nehmen sollte, also an mich denken sollte wieder, so hab ich das verstanden - ja, mich einfach einladen, das Leben wieder zu genießen."

Zu Wort gebeten werden die Teilnehmer des Gottesdienstes nicht. Nur durch das Verweilen an den Stationen zeigen sie, wo sie sich auch innerlich gerade befinden. Sibylle Peters ist dankbar für das Schweigen.

"Also mir hat die Meditation dann besser getan. Dass man einfach in sich hineingeschaut hat. In der Stille und nicht jetzt direkt wieder: Lieber Gott, hilf mir."

Armin Drack: "Wir verzichten ja bei dieser Form von Gottesdienst ausdrücklich auf so etwas wie Fürbitten - die einen wären überfordert, das zu verbalisieren, nicht weil sie nicht sprechen können, sondern weil das jetzt nicht ihr Medium ist. Und das heißt, es würde a priori dann ein ganzer Teil ausgeschlossen von Menschen, die - in der Situation zumal, im öffentlichen Raum - das nicht machen würden. Und bei anderen würde ich auch die Gefahr sehen, dass sie dann überborden würden und das nicht mehr im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung möglich wäre das dann aufzufangen."

Erst die Erfahrung zeigt, dass manche Elemente stärker angenommen werden als andere. Was immer wieder deutlich wird: Den Segen am Ende der Stationen steuern alle Anwesenden an.

Armin Drack: "Deshalb eigentlich kommen die Menschen, dass sie den Segen ausdrücklich zugesprochen bekommen - nicht allein den Segen der Kirche, das wäre noch zu wenig, sondern wirklich Gottes Segen, über den die Kirche nicht verfügt, auch nicht entziehen kann, aber den sie zusprechen kann."

Einer der ersten, die sich schon Mitte der 80er Jahre mit dem Thema Gottesdienste für Geschiedene auseinandergesetzt haben, ist der evangelische Pfarrer Armin Beuscher aus Köln. Auf Kirchentagen und in der Gemeinde hat er nicht nur offene Gottesdienste angeboten, sondern auch Rituale für einzelne Paare durchgeführt, die sich getrennt hatten.

"Das ist kein öffentlicher Gottesdienst für die Gemeinde, sondern ein seelsorgerlicher Gottesdienst, der aus dem seelsorgerlichen Prozess herauskommt. Ich hab ein Paar, das ich selber getraut habe, auch begleitet auf dem Weg, nachdem sie auseinander gegangen sind, und die beiden fanden es beide für sich wichtig, noch einmal vor Gott zu kommen, weil ihnen das sehr ernst war mit ihrem "Ja" vor Gott und zu sagen: Hier, da bin ich mir selbst und dir gegenüber und Gott gegenüber schuldig geworden. Das haben beide in ähnlicher Weise erlebt und auch so gewollt, das ist sicher ein seltener Fall."

In diesem Gottesdienst konnte der Pfarrer auf die individuelle Geschichte des Paares eingehen. Auch die Gestaltung war deshalb einzigartig.

"Wir haben Hochzeitsbilder geguckt, wir haben ein Schuldbekenntnis, das jeder der beiden geschrieben hat, verbrannt, das ehemalige Paar hat die Ringe zurückgetauscht, und es waren auch andere dabei, die damals auch dabei waren."

Einige Mitglieder der Kirche beobachten solche Rituale mit Skepsis. Selbst Armin Beuscher, der als evangelischer Pfarrer nicht den strengen Gesetzen der katholischen Kirche unterworfen ist, gerät in Rechtfertigungszwang.

"Es gibt Irritationen weil die Presse manchmal den Hang hat etwas unpräzise zu sein, dass von Scheidungsgottesdiensten gesprochen wird, was dann daraus wurde, war dann: "Kirche segnet Scheidungen." - Wir Evangelische segnen überhaupt nur Menschen, und sonst nichts, aber wir segnen auch keine Scheidungen, sondern wir segnen Menschen, die in einer Not sind und Unterstützung brauchen für ihren Lebensweg und bitten da um Gottes Kraft und Segen, aber wir segnen nicht, dass irgendjemand sich trennt, das ist sprachlich zum Teil etwas unsauber vermittelt worden und dann gab es Menschen, die sich in ihrem Glauben verletzt gefühlt haben und gesagt haben: Hier, Kirche - jetzt wird auch noch abgesegnet, dass die Leute ihre Ehe leichtfertig nehmen.
Die Leute, die zu uns kommen oder sowas aufgreifen, das sind Leute, die es sehr, sehr ernst meinen und sich sehr viele Gedanken machen und das sollten wir auch als Kirche sehr ernst nehmen und die Leute nicht alleine lassen."

Nach seinem Gottesdienst für ein geschiedenes Paar bekam Pfarrer Armin Beuscher viele weitere Anfragen von Betroffenen. Es gibt Bedarf für seelsorgerliche Begleitung in einer Trennungsphase. Er will sich aber nicht als Scheidungsprofi verstanden wissen.

"Es gab mehrere Paare, die sich gemeldet haben, die ich dann aber an ihre Heimatpfarrerin oder Pfarrer gewiesen habe mit der Bitte, dass sie einfach dort, wo sie zuhause sind, das machen und diese seelsorgerliche Kompetenz, die die Kolleginnen und Kollegen vor Ort auch alle haben, abzurufen und ich denke, dass wir als Kirche da eben auch was zu bieten haben, wir haben Rituale, wie Beichte, Vergebung, und diese Kompetenzen dann auch für die Menschen zu nutzen, die in ihrer Partnerschaft gescheitert sind, weshalb auch immer, das, denk ich, ist eine Aufgabe von Kirche und eine Möglichkeit, deutlich zu machen, dass wir auch an diesem Punkt für die Leute da sind, nicht nur wenn es darum geht zu sagen: Ey, super Hochzeit, machen wir ne tolle Party, sondern auch wenn es schwierig wird, da als Kirche präsent zu sein."

Der Gottesdienst in Aachen ist mit einem Abschlussgebet zuende gegangen. Unter den Anwesenden ist eine neue Dynamik zu spüren. Die wenigsten gehen sofort nachhause. Mehrere Seelsorger aus dem Vorbereitungsteam haben sich für Gespräche zur Verfügung gestellt. Jeder kann sie ansprechen und seine Gefühle oder Gedanken loswerden. Für die anderen werden in einer Ecke der Kirche Tee und Kekse bereitgestellt, was viele dankbar annehmen und dann auch miteinander ins Gespräch kommen.

"Ich hab auch den Eindruck, es ist ganz wichtig, dass sich die Leute auch an diesem heißen guten Tee wärmen können, das wärmt auch ihre Gefühle und ihre Emotionen."

Sr. Christl Winkler und Hermann-Josef Winkelhorst und nehmen als Seelsorger die Gespräche an, die von einigen gewünscht werden.

Hermann-Josef Winkelhorst: "Da sind Emotionen hochgekommen und bei einigen besteht der unmittelbare Bedarf, darüber auch mit jemandem sprechen zu können. Und da haben sich gute Anknüpfungspunkte gefunden, vielleicht den ein oder anderen Hinweis geben zu können, weiter zu verweisen bzw. auch tröstend tätig sein zu können, in aller Bescheidenheit, auch als Familienberater."

Sr. Christl: "Wir müssen gut aufmerksam sein, was können wir auffangen und was können wir unter Umständen nicht auffangen bei solchen Gottesdiensten - wenn also ein Mensch, der so betroffen ist, also total ... so dass man den Eindruck hat, mit dem Menschen musst du eigentlich danach noch länger reden, um zu schauen, was ist da los? Und das ist in diesem Rahmen kaum möglich, außer dass wir anbieten und sagen, wir können uns einen Termin ausmachen und Sie können kommen."

Gottesdienste für Geschiedene und getrennt Lebende zu finden, ist nicht leicht Selbst in Großstädten finden sie nur vereinzelt statt. In Aachen hat sich aus diesem Angebot eine Selbsthilfegruppe gebildet, und einige haben den Weg zu Einzelgesprächen mit Seelsorgen und Pfarren beider Konfessionen gefunden. Die evangelischen Pastoren Drack und Beuscher:

Armin Drack: "Wir haben einen katholischen Priester übrigens immer im Gottesdienst dabei, auch als signalhaftes Zeichen dafür, dass katholische Kirche an der Stelle der Lebensbegleitung, der Segensbegleitung nicht kneift, sondern im Gegenteil präsent ist, das ist uns ganz, ganz wichtig.
(Beuscher) Viele Menschen vor allem aus dem katholischen Bereich waren sehr dankbar, dass das überhaupt zum Thema wird und nicht so ne Diskriminierung ist, ihr gehört jetzt nicht mehr dazu, und Scheidung ist doch gegen den göttlichen Willen - sondern zu sehen: Das hat seinen Raum auch vor Gott und in der Kirche."


Bücher zum Thema Scheidung und Kirche/Liturgie:

Bärbel Grote, Annette Lenders, Johanna Rosner-Mezler: Weg/gehen - Trennung, Abschied, Neubeginn – Gottesdiensthilfen
Herder Verlag 2011, 144 Seiten, mit CD-Rom

Andrea Burgk-Lempart: Wenn Wege sich trennen. Ehescheidung als theologische und kirchliche Herausforderung
Aus der Reihe: Praktische Theologie heute, Band 111
Kohlhammer 2010, 277 Seiten

Armin Beuscher, Elisabeth Mackscheidt, Hartrmut Miethe (Hg.): Gewagtes Glück. Reflexionen, Gedichte, Liturgien, Impulse zu Trennung und Scheidung
Verlag Neues Buch 1998, 224 Seiten