Wenn Traurigkeit krank macht

11.05.2008
Laut Weltgesundheitsorganisation gehen in den Industrieländern die meisten Krankheitstage auf das Konto von Depressionen. Als Folge der Krankheit nehmen sich jedes Jahr in Deutschland mehr Menschen das Leben als bei Verkehrsunfällen zu Tode kommen. Der englische Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert hat sein neues Buch der verbreiteten Krankheit gewidmet.
Das Genre liegt im Trend: Betroffene schreiben Fachliches. Von dem Politikberater Andrew Solomon erschien 2001 eine monumentale Studie zur Depression "Saturns Schatten”, von dem Architekten Holger Reiners 2002 "Das heimatlose Ich”. Nun folgt mit "Anatomie der Schwermut” ein Buch des englischen Entwicklungsbiologen Lewis Wolpert.

Wolpert will solide Information bieten. Das tut er, mit der Zurückhaltung des Naturwissenschaftlers gegenüber dem Nicht-Bewiesenen. Immer wieder teilt er daher Seitenhiebe gegen Theorien der Psychoanalyse aus, wohl auch, weil er selbst eine schlechte Erfahrung mit einer psychoanalytischen Behandlung machte.

"Von der Seele entleert, verlieren Körper und Geist das Interesse an allem, was außerhalb ihrer selbst liegt." Mit diesen wenigen, klaren Worten fängt Wolpert die Depression ein. Denn Depression ist nicht gleich Trauer oder Schwermut. Wer trauert, ist in der Trauer lebendig. Aber der Depressive hat das Gefühl zum Leben verloren und will nichts anderes mehr, als seinem unerträglichen Zustand zu entkommen. Daher bringt sich etwa jeder zehnte schwer Depressive um. In seinem Kapitel über den Selbstmord schildert Wolpert, wie sehr er selbst von Suizidgedanken geplagt war.

Seine persönlichen Schilderungen bleiben jedoch anekdotisch. Lewis Wolpert kann sich nicht entscheiden, ob er persönlich werden oder sachlich bleiben will. Nach dem Vorwort kommt er erst im fünften Kapitel wieder auf die eigene Depression zu sprechen, deren Entstehen er hier in Verbindung mit einem Medikament bringt, das er gegen Herzbeschwerden einnahm. Er möchte seine Depression gern biologisch sehen. Daher spricht er über sich selbst wie ein Objekt und macht aus seinem Fall ein Sachbuch. Immerhin aber gibt er in einem später geschriebenen Vorwort zu, dass er sich mit seiner persönlichen Entstehungstheorie geirrt habe. Denn nach Erscheinen des Buches erlebte er noch weitere depressive Episoden. Warum, erfährt der Leser aber nicht.

An die Gründe scheint der Autor nicht herangehen zu wollen. Denn auch in einer anderen Hinsicht ist er unentschieden: Ob er für Depressionen lebensgeschichtliche Gründe annehmen will oder nicht. So schreibt er, die psychoanalytische These von der Bedeutung der frühen Kindheit sei eine "Doktrin”, der die "Evidenz” fehle, und führt zugleich aus, wie bedeutsam Erfahrungen als Kind mit Gewalt, Missbrauch, Verlust oder Alkoholproblemen der Eltern für eine spätere Depression als Erwachsener sein können.

Sehr fachkundig handelt er neurobiologische Zusammenhänge der Depression ab, um dieses Kapitel mit mehreren "Es könnte sein”-Sätzen zu beschließen. Denn auch biologischen Erklärungen erschließt sich die Depression nicht ganz.

Besonders kundig schildert er in einem Kapitel evolutionsbiologische Überlegungen dazu, welche Strategie zur Verbesserung von Überlebenschancen im depressiven Verhalten stecken können. Er selbst findet die entsprechenden Erklärungen allerdings unbefriedigend und stellt eine eigene These auf: Bei der Depression entgleite das Gefühl der Trauer, das uns bei Verlust Bindung zu anderen Menschen verschafft, ins Pathologische. Die Traurigkeit werde bösartig. Der englische Titel des Buches heißt daher auch "Malignant Sadness”, "bösartige Trauer”. Allerdings bleibt diese These lediglich ein Bild, in dem die Depression wie ein Krebsgeschwür dasteht, bei dem die Zellen entartet sind. Die These wird nicht weiter begründet und hat auch keine Konsequenzen für die Therapie. Bei der Behandlung folgt Wolpert den gängigen Pfaden: Psychotherapie und Medikamente.

Rezensiert von Ulfried Geuter

Lewis Wolpert: Anatomie der Schwermut. Über die Krankheit Depression
Aus dem Englischen von Sylvia Höfer
Verlag C.H. Beck, München, 2008
303 Seiten, 19,90 Euro