Wenn Moral religiös wird

21.10.2009
Michael Schmidt-Salomon zeigt in seinem Buch auf, dass Kritiker des Heiligen oft mit Strafe bedroht werden. Solches Denken hat auch zu Attentaten gegen Ungläubige geführt.
Schmidt-Salomon beginnt buchstäblich und im übertragenen Sinne bei Adam und Eva. Was macht uns Menschen zu denen, die wir sind? Zum einen sind es unsere Erbanlagen, zum anderen kulturelle Einflüsse und unsere individuellen Erfahrungen. Jeder lebt in seiner eigenen Gedankenwelt, aber es gibt Überschneidungen, verursacht durch den so genannten Zeitgeist.

Der sorgt auch dafür, dass wir anders denken, als unsere Vorfahren vor 100 oder 50 Jahren. Allerdings bestimmt uns auch heute noch vieles, was – flapsig gesagt – von gestern ist. Beispielsweise die Annahme, dass wir Menschen über einen freien Willen verfügen.

"Wir sagen etwa: ‚Schalt doch mal dein Hirn ein!’, wenn jemand offensichtlichen Unsinn daherredet. Bei genauerer Betrachtung beruhen derartige Redewendungen jedoch auf einer kolossalen Verdrehung der Tatsachen. Denn es ist keineswegs so, dass das Gehirn in irgendeiner Weise abhängig wäre vom ‚Ich’. Es ist umgekehrt: Das ‚Ich’ ist eine Konstruktionslösung des Gehirns."

Der Hirnforschung verdanken wir die Erkenntnis, dass wir nur im Rahmen unserer kulturellen Prägungen denken und handeln können. Jeder, der schon etwas älter ist, kennt das, weil er früher Gedanken gar nicht hätte fassen können, die ihm heute selbstverständlich erscheinen. Das bezieht sich nicht zuletzt auf moralische, beziehungsweise ethische Fragen. Prügelstrafe, einst selbstverständlich, hält heute hierzulande so gut wie niemand mehr für gut. Wir können also Neubewertungen vornehmen, können lernen.

Michael Schmidt-Salomon plädiert dafür, dass wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass Lernen durch Moral eingeschränkt wird. Moral ist an religiöse oder ideologische Vorgaben gekoppelt, also an Glaubenssätze. Da Glaubenssätze nicht beweisbar sind, werden sie zur Absicherung mit einem Kritikverbot gekoppelt. Sie werden heilig genannt und damit unanfechtbar. Sicherheitshalber werden Kritiker des Heiligen mit Strafe bedroht. Auf Erden und in alle Ewigkeit.

Solches Denken hat zu den Attentaten gegen sogenannte Ungläubige geführt und zu einem Krieg gegen die "Achse des Bösen". Nachdrücklicher hätte man nicht beweisen können, wie zielstrebig religiöse Begriffe wie Gut und Böse in die Irre führen.

"Dadurch, dass wir uns vom traditionellen Gut-und-Böse-Moralismus befreien, schaffen wir die Voraussetzungen, um ethisch in angemessener Weise handeln zu können. Denn Moralismus ist nicht die Grundlage der Ethik, er verhindert viel eher, dass wir uns ihren Anforderungen stellen."


Der Gut-und-Böse-Moralismus idealisiert archaische Impulse, die auch bei anderen Primaten zu finden sind, beispielsweise bei Schimpansen. Die eigene Familie, die eigene Gruppe soll begünstigt, die Fremden vertrieben, zur Not vernichtet werden. Fürsorge und Fairness gelten nur intern; andere Gruppen werden bekämpft. Wir verhalten uns immer noch auf diese Weise eigennützig, rechtfertigen es allerdings moralisch. Wir sind gut, die anderen sind böse.

Wir kommen nur weiter, so Schmidt-Salomon, wenn wir Werte vertreten, die für alle gelten, nicht nur für die vermeintlich Guten. Werte zudem, die im Gegensatz zu religiösen Dogmen in Frage gestellt werden dürfen, die keineswegs beliebig, aber durch neue Erkenntnisse veränderbar sind.

Wenn wir davon ausgehen, dass wir jeweils nur so handeln können, wie es die neuronalen Schaltungen in unserem Gehirn zulassen, dann können wir gar nicht gut oder böse sein, dann sind wir unschuldig. Das dürfte für viele zunächst ein erschreckender Gedanke sein.

Schmidt-Salomon erklärt allerdings, warum das vor allem eine befreiende Schlussfolgerung ist, jedenfalls dann, wenn wir zwischen Schuld und Verantwortung unterscheiden. Eine Gesellschaft braucht Regeln, und wer diese Regeln verletzt, muss dafür die Verantwortung übernehmen. Wenn wir dem Regelverletzer zubilligen, dass er nicht anders handeln konnte, dass er nicht "böse" ist, dann können wir auf Rache verzichten und ihm zugestehen, dass er dazulernen kann. Schmidt-Salomon führt auch andere Konsequenzen an: Das Unschuldsprinzip würde bedeuten, dass wir uns nicht mehr mit Schuldgefühlen herumplagen müssten.

"Ich kann meine Vergangenheit nicht verändern, aber ich kann daran arbeiten, in Zukunft klüger, vernünftiger, verständnisvoller, liebevoller zu sein, als ich es war und jetzt noch bin. Reuegefühle sind ein wichtiger Anstoßgeber für die persönliche Weiterentwicklung, Schuldgefühle hingegen stehen ihr im Wege."

Nur eine undogmatische Weltsicht erlaubt es uns, neue wissenschaftliche Erkenntnisse auch über uns selbst aufzunehmen und uns um Gerechtigkeit, um fairen Ausgleich zu bemühen.

"Der Vorteil einer philosophischen Weltanschauung gegenüber einer Religion besteht darin, dass sie es uns ermöglicht, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen."

Michael Schmidt-Salomon plädiert auf gewinnende und überzeugende Art für eine aufgeklärte Selbst- und Weltsicht. Gewinnend, weil er leicht verständlich, elegant und humorvoll formuliert. Überzeugend, weil er stringent und interdisziplinär argumentiert und sich dabei jene Probleme vorknöpft, die uns besonders beschäftigen. Sein Buch ist also unbedingt empfehlenswert!

Besprochen von Barbara Dobrick

Michael Schmidt-Salomon: "Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind", Pendo Verlag München 2009, 349 Seiten, 19,95 Euro