Wenn Freiheit depressiv macht

Rezensiert von Leonard Novy · 02.10.2011
Die Gesellschaft als Quelle von Unglück und Leid des Menschen: Alain Ehrenberg beschreibt die Überforderung des Individuums angesichts der Auflösung traditioneller Strukturen und Normen und enorm gewachsener Freiheitsspielräume.
Die Gesellschaft als Quelle von Unglück und Leid des Menschen – das ist nicht erst seit gestern ein Dauerbrenner der Gesellschaftstheorie. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass der Suhrkamp Verlag Alan Ehrenbergs monumentale Studie "La Société du malaise" mit "Das Unbehagen in der Gesellschaft" übersetzt hat. Dem Kenner wird Freuds berühmtes Werk "Unbehagen in der Kultur" in den Ohren klingen.

Hatte Freud in seiner 1930 erschienenen Schrift die Einhegung und Unterdrückung menschlicher Triebe durch die Kultur zur Quelle menschlichen Leids erklärt, fokussiert der französische Soziologe 80 Jahre später die Überforderung des Individuums angesichts der Auflösung traditioneller Strukturen und Normen und enorm gewachsener Freiheitsspielräume.

Schon in seiner Studie "Das erschöpfte Selbst" hatte Ehrenberg 1998 die Ursache der Depression, der am häufigsten diagnostizierten psychischen Krankheit der westlichen Welt, in einer "Kultur der Autonomie" und der damit zusammenhängenden Überforderung des Individuums ausgemacht. Nun weitet er den Blick, erörtert, wie individuelle Pathologien das Denken, Sprechen und Handeln moderner Gesellschaften prägen, die sich zusehends an den Idealen – oder sollte man sagen "Ideologien"? – der Autonomie und Selbstbestimmung orientieren.

Am Anfang dieses Unbehagens steht die Befreiung des Einzelnen von Klassen- und Gruppenzugehörigkeit und der damit einhergehenden spezifischen Normen zu Gunsten einer schier unendlichen Vielzahl wählbarer Lebensformen. An Stelle der "Pflicht", institutionell und gesellschaftlich vorgegebene, aber überschaubare Regeln einzuhalten, treten Eigenverantwortung und die Pflicht zur Selbstfindung. Statt "Was darf ich tun?" fragt sich das befreite Individuum "Was kann ich tun?" Und es leidet, denn der ständige Begleiter des individuellen Strebens nach dem gelungenen Leben ist die Angst vor dem Scheitern; das Gefühl, nicht das Bestmögliche getan, nicht das Optimum erreicht zu haben. Hierin sieht Ehrenberg die Ursache für die rapide Zunahme depressiver Erkrankungen und narzisstischer Persönlichkeitsstörungen.

Alan Ehrenberg zeichnet das eindrucksvolle Gesamtbild sozialer Formen und Beziehungen im Übergang von der festen zur, so hat es Zygmunt Bauman formuliert, "flüchtigen" Phase der Moderne – einem Zustand, in dem soziale Strukturen, Institutionen und Normen fluider, wechselhafter werden.

Im Gegensatz zu Soziologenkollegen wie Robert Putnam oder Richard Sennet, die mit Individualisierung automatisch Niedergang und Verfall assoziieren, geht es Ehrenberg darum, diesen Wandel der sozialen Ordnung zu beschreiben.

Empirisch unterfüttert er seine Soziologie des Individualismus mit großangelegten Fallstudien zu Frankreich und den USA – zwei Gesellschaften, die sich hinsichtlich der Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft, zwischen individueller und gesellschaftlicher Selbstreflexion diametral gegenüber zu stehen scheinen. Diesseits wie jenseits des Atlantiks offenbaren die Debatten zu Individualismus und Autonomie jedoch

dieselbe Beunruhigung hinsichtlich der Auflösung gesellschaftlicher Bindungen, indem sie an die Werte der wechselseitigen gesellschaftlichen Abhängigkeit erinnern. Aber das eine Sprachspiel bringt dies durch den Bezug zum moralischen Individualismus zum Ausdruck, während sich das andere auf die Solidarität der französischen Gesellschaft bezieht.

So sei das Konzept individueller Autonomie konstitutiv für die politische Identität und demokratische Praxis der Amerikaner, gelte ihnen das Selbst als Subjekt der Konkurrenz wie der Kooperation. "Persönlicher Erfolg und der Aufbau der Gesellschaft sind hier unzertrennlich", schreibt Ehrenberg, und er meint damit, dass in der "Neuen Welt", die zugleich die älteste Demokratie der Welt ist, Unabhängigkeit stets Bedingung für gemeinsames Handeln war. In Frankreich, wo der Staat dem eigenen Anspruch nach eine Solidargemeinschaft ist, werde Autonomie dagegen als Schutz, wie ihn der Staat gewährt, aufgefasst; erscheint das Selbst als Gefahr für öffentliche Institutionen.

So kommt es, dass die Amerikaner fürchten, dass der mit narzisstischen Persönlichkeitskrisen befasste Mensch seine Pflichten sich selbst wie der Gemeinschaft gegenüber vernachlässigt. Der französische Diskurs hingegen konzentriert sich auf das neoliberale Denken und seine Folgen, sieht das Streben nach Autonomie als gleichbedeutend mit dem Wegfall von Schutz und Sicherheit, wie ihn Staat und seine Institutionen gewährten. Kulturpessimismus ist Ehrenbergs Sache nicht. Das Diktum von der "Schwächung sozialer Bindungen" jedenfalls hält er für einen Mythos.

Er geht davon aus, dass

der Glaube daran, dass der 'Aufstieg des Individuums' gleichbedeutend sei mit einer 'Abschwächung der sozialen Bindung', ein natürlicher Zug der Demokratie ist, der praktischen Notwendigkeiten entspricht, und kein Übel, das sie unweigerlich zerstört.

Schließlich sei

Das menschliche Leben ... nicht deshalb weniger sozial, weniger politisch oder weniger institutionell, weil es heute persönlicher erscheint. Vielmehr ist es auf andere Weise sozial.

Eine Beobachtung, die angesichts der nur vordergründig paradox anmutenden Herausforderungen, vor denen die repräsentative Demokratie steht, nicht von der Hand zu weisen ist. Wahlbeteiligung und Mitgliedszahlen der Parteien sind rückläufig. Gleichzeitig zeugen Proteste wie in Stuttgart und der Ruf nach direktdemokratischen Verfahren davon, dass die Bürger mitreden und gestalten wollen. Es ist der Versuch der Bürger, wenigstens in ihrer unmittelbaren Lebensumwelt die Verhältnisse gerade zu rücken. Es ist dies letztlich das Bedürfnis des Citoyen nach Autonomie, nach kollektiver Selbstbestimmung in einer ungewissen Welt.

Alain Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
531 Seiten, 29,90 Euro
Buchcover "Das Unbehagen in der Gesellschaft" von Alain Ehrenberg
Buchcover "Das Unbehagen in der Gesellschaft" von Alain Ehrenberg© Suhrkamp Verlag